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"Containertagebuch 1"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

 

 

   
   
    Hallo,
seit meinem Renteneintritt … hatte ich eigentlich vor, mich insgesamt 3 Monate jeder medizinischen Tätigkeit zu enthalten, aber das hielt ich, vor allem aufgrund der „Flüchtlingskrise“ dann doch nicht aus. Ging zum Hauptbahnhof, wo damals ein Versorgungs- und ein Sanitätszelt stand, fragte, ob sie einen Arzt gebrauchen könnten, die Antwort war „im Prinzip ja“, aber ich sollte mich erst auf dem Gesundheitsamt in Altona melden, das tat ich.
   
         
4.10.15  

Das Betreuungswesen für ankommende Flüchtlinge läuft einigermaßen chaotisch, weil die offiziellen Stellen über ihre eigenen Füße d. h. Bürokratievorhaben stolpern, und somit alles viel länger dauert, als es müsste. Z. B. wollte der zuständige Gesundheitsamtsarzt (den sie auch aus der Rente zurückgeholt haben) mir erst mal unbedingt einen Honorarvertrag aufdrücken, obwohl ich keine Kohle dafür will – erst das Argument meines Steuerberaters, dass selbständige Einkünfte für mich jetzt „steuerschädlich“ seien (die umständliche Begründung erspare ich mir), ließen ihn davon Abstand nehmen. Jetzt stehe ich auf einem Dienstplan für das Sanitätszelt vorm Hauptbahnhof, diese Woche einmal, das war gestern, und nächste Woche vermutlich zweimal vormittags, mehr als 2x die Woche wollte ich nicht.

   
         
    Die in Hamburg Angekommenen werden von Freiwilligen mit einem mehrsprachigen Willkommens-Transparent empfangen und dann gefragt, was sie wollen, in Hamburg bleiben oder weiter reisen. In der Wandelhalle des Hauptbahnhofs gibt’s unter einer Treppe einen Stand mit der englisch-arabischen Aufschrift „Sweden“. Wer hierbleiben will, wird zum Harburger Bahnhof geleitet und dort in eines der Erstaufnahmelager gebracht (wieder alles von freiwilligen Helfer/innen).    
    Viele der in Hamburg Gelandeten wollen nach Schweden weiter, die meisten weil sie dort schon Angehörige haben. Unter der Treppe werden sie beraten, bekommen etwas neue Kleidung wo nötig, und Familien bzw. Bedürftige werden vor den Bahnhof zum Zelt geleitet, wo sie zu essen und zu trinken bekommen. Nur Familien mit Kindern dürfen ins Zelt, sonst wird’s zu voll, der Rest campiert draußen (der Platz ist überdacht).    
         
   

Ein zweites, kleineres, Zelt daneben ist das Sanitätszelt, und damit mein „Revier“. Mehrere Rettungsassistenten und Krankenschwestern versehen hier ihren ehrenamtlichen Dienst, die meisten haben daneben noch einen regulären Job. Das Klima ist sehr familiär, ich hab mich sofort wohlgefühlt ….
Befremdlich, dass man zu jeder Untersuchung – die meisten Patienten sind erkältet – erstmal einen Einmalkittel, Mundschutz und Handschuhe anziehen muss, zwecks möglicher Infektionsgefahr. Ich lasse die Dolmetscher als erstes erklären, was diese Maskerade soll, damit die Leute keine Angst bekommen.

   
    Die zu untersuchenden Kinder kriegen alle erstmal ein Spielzeugsanitätsauto, das finden sie toll. Ich lasse Fieber messen, höre sie ab, gucke in den Hals und taste sie soweit als notwendig ab, mehr braucht’s nicht. Und mehr als Hustenbonbons und manchmal Aspirin (für die Erwachsenen) haben wir auch nicht zu verteilen. Hätten wir Antibiotika gebraucht, wär’s umständlich geworden, aber machbar.    
         
    Für Syrer (das sind die meisten) und Afghanen (das ist die zweitgrößte Gruppe) sind Dolmetscher da. Manche Syrer sprechen englisch, die Afghanen weniger. Für Eritreer und Somali hab ich mir aus meiner alten Patientenkartei Telefondolmetscher besorgt. Auf Arabisch kann ich mich grad mal vorstellen: „Salaam aleikum – ana hakim“ („ich Arzt“), dann ist fast schon Schluss. „Shukran“, danke, wenn ich fertig bin, und zum Abschied nochmal „salaam aleikum“, das kenne ich aus Karl May.    
    Problematisch war ein junger zusammengebrochener Syrer, aus dem herauszubekommen war, dass er vor einem Jahr einen Bombenangriff mit 100 Toten überlebt hat. Das war zum Glück nur einer – man stelle sich vor, nach einem Angriff würde die Straße voll von solchen Menschen sein … Er wollte ins Krankenhaus, und das konnten wir auch organisieren. In diesen Fällen fordern die Hamburger Krankenhäuser und Krankentransport-dienste derzeit keine Krankenversicherungsnachweise.    
         
    Ich freue mich, trotz solcher Herausforderungen, auf meinen nächsten Einsatz. Helfersyndrom hin oder her, aber ich find’s schön, wenn ich gebraucht werde und in einem freundlichen Team arbeiten kann.    
         
   
    Zunächst funktionierte auch die Heizung noch nicht – inzwischen tut sie’s.    
         
21.10.15  

Nachdem der bisherige Sanitätsdienst sein Zelt plötzlich abgebaut hatte und ich somit arbeitslos geworden war, hab ich ein bissl getrommelt mit dem Ergebnis, dass der Paritätische Wohlfahrtsverband einen Container neben sein Versorgungszelt am Hauptbahnhof hingestellt und mich zum „leitenden“ Arzt befördert hat. Jetzt fahr ich fast jeden Morgen zum Hauptbahnhof, sperr’ „meinen“ Container auf, seh’ nach dem Rechten und versorge die Flüchtlinge, die da kommen. Mittags lass ich mich ablösen, wenn jemand kommt – sonst sperr ich zu und melde im Betreuerzelt, dass jetzt halt keiner da ist. Übermorgen ist ein Meeting zwecks besserer Organisation.

   
         
   
    Eine Kosmetikfirma hat uns ein Pappregal gespendet.    
         
    Mir macht diese „Flüchtlingskrise“ irgendwie Spaß. Der Bahnhofsvorplatz mit seinen Zelten und Flatterbändern erinnert mich an eine Bauplatzbesetzung, nur dass keine Polizei zum Räumen kommt – im Gegenteil, die sind froh, dass wir Freiwilligen da sind. Außer ein paar Arschlöchern (die sich am Hauptbahnhof bisher zum Glück nicht haben blicken lassen) loben uns alle, bis hin zu Angie. Wenn sich vor ein paar Wochen welche mit Transparenten „Refugees welcome“ auf den Bahnsteig gestellt hätten, wär’ gleich der Sicherheitsdienst gekommen und hätte sie verjagt – jetzt fragen sie freundlich, wie’s uns geht oder ob wir etwas brauchen. Und wir Helfer dürfen im Bistro der Bahn essen, das Stammessen gibt’s umsonst, für mehr muss man einen Minibeitrag zahlen.    
         
   
    Die aus Palästina stammende Bahnhofsapothekerin hat mir „Arzt“ in Arabisch und Farsi (für Afghanen/Iraner) auf meine Weste geschrieben.    
         
22.10.15  

Aufgrund der Meldungen, dass das BKA jetzt vermehrt mit rechten Übergriffen auch auf Helfer der Flüchtlinge rechnet, hab ich mir ein paar Trillerpfeifen als einfach zu bedienende Alarmgeräte besorgt. Als ich der Ladeninhaberin erzählte, wozu ich die brauche, hat sie sie mir geschenkt.

   
         
27.10.15  

Das Problem ist, dass viele Ärzte bereits anderswo aktiv sind, z. B. in den Erstaufnahmeeinrichtungen, [dass] die Ausstattung im Erste-Hilfe-Container immer noch recht bescheiden ist (z. B. gibt’s kein fließend Wasser, Händesäuberung geht nur mit Sterilium) und die Bedürfnisse der meisten anlandenden Flüchtlinge andere sind als die der betreuenden Ärzte. So Flüchtlinge wollen in erster Linie weiterreisen, selbst wenn aus ärztlichen Gründen Ruhe angesagt ist oder gar eine Vorstellung im Krankenhaus. Wenn letztere von den Betroffenen akzeptiert wird, dann meistens nur nach langen Debatten – gestern zum Beispiel ein stark geschwächtes Kleinkind mit Dauerdurchfall und eine Schwangere mit Blutungen.

   
   
    Bis demnächst !    
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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