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"Containertagebuch 2"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
   
   

Hamburg Hauptbahnhof, Hachmannplatz,
früher Vormittag
 
Der Nebel löst sich nicht auf, die Luft ist feucht, das Ganze bei ca. 6 Grad (plus immerhin, gefühlt weniger), das typische Hamburger Schmuddelwetter halt. Was bedeutet, dass man zwar einigermaßen trocken von einer Straßenseite zur andern kommt, aber bei Daueraufenthalt nach einer Weile so nass ist, als hätte man im Regen gestanden.

   
         
    Weil die Weiterfahrt in die Fährhäfen Richtung Schweden derzeit zögerlich verläuft, kampieren hier mehr Leute als sonst, zum Teil in Freien; überall liegen durchgeweichte Pappdeckel herum, zum Teil sitzen noch Leute drauf mit über den Kopf gezogenen Decken. Einer zeigt mir ein kleines zusammengerolltes Campingzelt und fragt, wo er das hier aufstellen darf. Ich muss leider passen und verweise ihn an den "Info-Point" im Bahnhof unter dem Treppenaufgang der Wandelhalle.    
   
    Afghanen fürchten abgeschoben zu werden    
         
    Die Helfer, insbesondere die zu wenigen Dolmetscherinnen, sind nicht damit nachgekommen, den Müttern und Kleinkindern ihr spezielles Muter-und-Kind-Zelt (das tagsüber als Kindertagesstätte für die zahlreichen Flüchtlingskinder dient) zuzuweisen – eine völlig erschöpfte Mutter mit ihrem kotzenden Kleinkind kam jetzt in den Container, begleitet von ihrer Schwester mit deren Sohn, der anscheinend keine Plastikwindeln verträgt, aber es sind keine anderen da. Mit Vomacur-Antikotz-Zäpfchen das eine versorgt und tüchtig eingepudert das andere werden sie in den Nebel zurückgeschickt.    
         
   

Noch so ein armer Hund. 19 Jahre, unterwegs die Eltern verloren, die noch irgendwo (wahrscheinlich in Deutschland) herum irren, Geld und alles Gepäck incl. Schuhe geklaut worden, sitzt er barfuß in Flipflops vor mir und hustet sich die Seele aus dem Leib. Da kurz vor der Lungenentzündung, bekommt er Antibiotika (womit ich sonst sparsam bin) und die Aufforderung incl. Infozettel – es geht auch ohne Formulare – sich spätestens in 2 Tagen beim Arzt zu melden, wo auch immer. Und meine tolle Dolmetscherin besorgt ihm Schuhe – und organisiert so nebenbei durch ein paar Gespräche mit den richtigen Bahnmenschen einen Sieben-Personen-Gratis-Transport von Hamburg nach Traunstein.

   
   
    Ich will schon schließen, da kommt eine  Mutter mit 4jähriger Tochter und Schmerzen beim Pinkeln. Ich nehme sie mit in die Bäckerei in der wir die Toilette benutzen dürfen, Urinteststreifen und Plastikbecher dabei, allein auf Kommando kommt nix.   
Also bleibt es bei Ibuprofensaft gegen die Schmerzen, denn Kinderantibiotika hab ich nicht mehr und die Mutter kein Geld. Vielleicht gehts ja auch ohne Antibiotika … Infozettel, wie immer auf Englisch, denn man  weiss ja nicht, wohin es die Familie in 2 Tagen hin verschlagen hat.
   
         
    13 Uhr, Feierabend, ich geh in die Bahnkantine essen (das Stammessen gibt’s für die Helfer umsonst).
Wollte ja schon mit 7 Eisenbahner d. h. Lokführer werden und hab mich in diesem zarten Alter dann doch dagegen entschieden, weil mein Vater auf meine Frage erklärte, ein Zug koste ca. 1 Million DM oder auch mehr, während unser VW-Käfer schon für 4.500 DM zu haben war. Beides für mich und meinen 2 DM Taschengeld allerdings unerreichbare Beträge, und darauf, dass man unter Umständen sogar bezahlt wird, dass man mit so einem Ding rumfährt, kam ich nicht (als ich diese Geschichte mal in einem Internetforum erzählte, antwortete einer: "Aus dem gleichen Grund bin ich nicht Pilot geworden").
   
   

 

   
    PS
Das Papierlaken auf der Containerliege ist das letzte das noch da ist. Ursprünglich wollte ich in eine befreundete Praxis Nähe Rathaus gehen um nach einer Rolle Papierliegenunterlagen zu fragen, und betrete die Fußgängerzone Spitaler/Mönckebergstraße. Der Unterschied auf dieser anderen Seite des Hauptbahnhofs mit den dahinflanierenden bis -eilenden Shopping-Kund/inn/en zu dem Elend der anderen Bahnhofsseite/Hachmannplatz mit den frierenden Flüchtlingen und einigen Obdachlosen könnte größer nicht sein.
   
         
    Da ich keine Lust habe, die nicht ganz leichte Liegenrolle weiter zu schleppen als unbedingt nötig, geh ich nicht bis zu der ursprünglich ins Auge gefassten Praxis, in der ein alter Studienfreund aktiv ist, sondern betrete eine der zahlreichen Privatpraxen in unmittelbarer Bahnhofsnähe (eine "normale" Praxis könnte die Mieten dort nicht zahlen), zücke meinen Arztausweis weil mein Äusseres ja nicht unbedingt den Onkel Doktor verrät, erkläre der Empfangsdame wer ich bin und was ich am Bahnhof mache und frage rotzfrech, ob sie vielleicht so nett ist und mir eine Liegenpapierrolle überlässt.Sie fragt ihre Chefin und keine fünf Minuten später bin ich mitsamt Rolle wieder draussen.    
         
    Bis demnächst !    
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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