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"Containertagebuch 3"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
       
9.11.  

Inzwischen haben wir richtige Regale im Container, außer mir sind mehrere Kolleginnen und Kollegen sowie Krankenschwestern zusammen mit unserer Top-Dolmetscherin tätig – der Dienstag hat zwar noch Lücken, aber die schließen sich langsam. Das haben wir vor allem Emma vom Orga-Team und deren dramatischem Hilferuf nach Verstärkung im Internet zu verdanken, aber natürlich auch den unermüdlichen Profis vom Paritätischen (womöglich ist sogar der Container bald Geschichte, und es geht in festen Räumen weiter, aber psst …)

   
         
4.11.  

Zurück zum 4.11.
Das Schmuddelwetter ist vorbei, dafür isses morgens noch kälter. Während vor dem Verpflegungszelt eine lange Schlange Frierender ansteht, kommt ein älterer Hamburger mit einem professionell in Plastik gepackten Mantel: „Hier, den Pelzmantel, meine Frau trägt den nicht mehr, wo kann ich den abgeben?“
Kleiderabgabetermin ist jetzt grad nicht, sind eh zu wenig Helfer da (das war noch „vor Emma“), da braucht’s Eigeninitiative. Vor einer jungen Frau in dünnem Lederjäckchen mache ich die Geste des Frierens, sie nickt, ich winke den Mann herbei, der packt den Mantel aus, sie guckt ungläubig, gibt aber ihr Jäckchen der Nachbarin und zieht den schweren Pelzmantel an, der ihr bis Mitte Unterschenkel reicht. „Wenn er zu groß ist, kann sie ihn auch verkaufen“, schlägt der Spender vor und verabschiedet sich. Oder als Winterdecke verwenden, denke ich.

   
 
    Etwa 20 Patienten später, die meisten erkältet – zwei haben wir mit vereiterten Finger- bzw. Fußnägeln ins Krankenhaus St. Georg geschickt – sitzt ein junger Mann auf der Bank vorm Zelt und fragt auf Englisch nach einem Rollstuhl. Eine unglaubliche Geschichte: Er ist von Geburt querschnittgelähmt, und seine Freunde haben ihn von Syrien bis hierher getragen. Ein Rollstuhl wär’ jetzt sicher praktisch – allein der Zug fährt gleich. In ein paar Stunden hätte sich ein gebrauchter Rollstuhl wohl auftreiben lassen, zumal vorgestern ein Rollstuhlfahrer gefragt hatte, ob wir seinen alten brauchen könnten …    
         
6.11.   Abends hetzt ein obskurer rechter Verein vor 50 aus ganz Norddeutschland zusammengekratzten Claqueuren in einem Norderstedter Restauranthinterzimmer „Merkel muss weg“ – vor der Tür stehen Gegendemonstranten mit Bier in der Hand, das ihnen der von den Rechten arglistig getäuschte Wirt ausgegeben hat.    
         
   

Vormittags war richtig unangenehmes Regenwetter, alles hustet und schnieft, mich eingeschlossen. Die Dolmetscherin hat sich krank gemeldet, zum Glück steht mir eine junge Kollegin zur Seite sowie eine langgediente Arzthelferin. Die afghanischen Patienten können meistens kein Englisch, so renne ich ein ums andere Mal aus dem Container und krächze in die wartende Menge: „Terdschuman, Farsi !!“ Das Bröselenglisch des so gefundenen Dolmetschers sowie sechs Hände retten uns durch den Vormittag.

   
 
7.11.  

Samstag 7.11.
Heute haben Jugendliche in Stadtteil Klein Borstel zu einer Demo FÜR den Bau von Flüchtlingsunterkünften in ihrer Nachbarschaft aufgerufen, nachdem einige Anwohner mit Hilfe eines Spezialanwalts für Reichenghettoabschottung einen Baustopp erwirkt haben. Ich lasse Container Container sein (hab heut eh „frei“) und laufe bei den fast 1000 Leuten mit.

   
       
         
    Bis demnächst !    
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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