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"Containertagebuch 16 a"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
       
10.1.2016  

Liebe Fans,
nicht nur in Hamburg, sondern auch an anderen Bahnhöfen stranden jede Nacht Flüchtlinge und wissen nicht weiter. So auch an dem berühmten Hundertwasserbahnhof in Uelzen, in und um den sich ein engagiertes Team jetzt die 50. Nacht um die Ohren gehauen hat.
Hier der Bericht eines Aktivisten (danke, lieber Joost, für die Genehmigung!):

   
         
   
         
   

Bericht Flüchtlingszuflucht
Hundertwasserbahnhof Uelzen.

   
         
    Die Nacht vom 8.1.2016 ist unsere 50. Nacht in Folge, :-) die wir in der Zuflucht verbringen. Es sind wieder HelferInnen von weit her angereist, um hier die Nachschicht an der Seite der hiesigen zu wuppen. Heute sind es 93 km von HH hierher. Gestern kam eine Helferin aus 220 km Entfernung. Danke allen, die ermöglichen, dass wir nachts Flüchtlinge vom Bahnsteig holen und in warmen Räumen mit frisch gekochtem Essen, heißem süßen Tee, Obst, Keksen, Datteln, Schokolade, Brot, Margarine, Marmelade, Zahnbürsten, Zahnpasta, Duschgel, Kämmen, Rasierern, Unterhosen, BHs, Socken, Handschuhen, dicken Jacken, festen Schuhen, warmen Babyoveralls, Babynahrung, Windeln, … und sicheren, sauberen kuscheligwarmen Schlafplätzen versorgen können.    
         
    Heute ging es früh los – schon vor dem offiziellen Start um 23.46 Uhr liefen mir – oder ich ihnen – eine Gruppe zitternde Menschen auf dem Bahnsteig über den Weg. Zwei bibbernde junge Männer mit einem zitternden kleinen Mädchen auf dem Arm. Zwei zitternde junge Frauen mit noch einem frierenden kleinen Kind auf dem Arm. Drumrum drei kleine bis mittlere Jungs, die sich durch Umherlaufen und Faxen machen warm halten. Also nix wie hoch in die Zuflucht, den Deckenrucksack holen, dicke Jacken, ein Paket Datteln, Wasser in die Tasche und wieder runter. Als erstes hole ich das zitternde kleine Mädchen in einen warmen Kinderschlafsack. Es hebt den Kopf von der Schulter des genauso zitternden Mannes und guckt mich scheu an. Ein über und über mit verschorften Narben übersätes Gesichtchen wendet sich mir zu. Die Kleine hat Windpocken und gehört in ein warmes Bett. Die Männer freuen sich über die warmen Jacken. Die Frauen über das Wasser und die Datteln. Alle gucken dankbar. Eine gemeinsame gesprochene Sprache sprechen wir nicht.
Eine junge Spanierin, die ein wenig Persisch spricht, packt überraschend eine gerade gekaufte (der Kassenzettel flatterte zu Boden) Riesenpackung feinster Pralinen aus der Einkaufstasche und reicht sie großzügig rüber. Sie ist in Nullkommanix leergegessen. Das sieht nach Schmacht aus. Dann kommt auch schon der Anschlusszug. Gute Fahrt!
   
         
    Der 23:46er Zug – eigentlich durchgehend von Göttingen nach Hamburg, beschert uns 19 Menschen in die Zuflucht. Der Zug kommt mit qualmender Lokomotive im Uelzener Bahnhof an und alle Fahrgäste werden auf den Bahnsteig geschickt. Dabei zwei weinende Kleinkinder auf Mütterarmen, die Fieber haben und husten. In der Zuflucht beruhigen sie sich schnell, wollen aber nicht angesehen werden und halten sich ein kleines Stofftier ins Gesicht. Dabei sind auch. 2 junge Mütter, 2 mittlere Kinder, 12 Männer und zwei Farsiübersetzer. Alle Essen und trinken heißen Tee und werden zum Ersatzzug begleitet.    
         
   

Mit dem nächsten Zug aus Hamburg kommt ein junger Sudanese, der so müde ist, dass er sich lieber sofort hinlegt, bevor er auch nur ein Fitzelchen gegessen oder getrunken hat. Er wird, weil alleinreisend, in unserem winzigen Lagerraum geparkt und sägt dort tief schlafend alles zusammen. Puh, gut, dass er hier alleine schläft.

Denn schon geht es weiter. Mit der ersten Gruppe wurde der vorbereitete Topf Essen schon fast leer. Egal – ruckezucke neues Wasser aufgesetzt. Und neben Tee kochen und ausschenken koche ich mal eben noch einen großen Topf Reis. Als hätte ich es geahnt. Da purzelt auch schon die nächste afghanische Familie aus dem Zug. Gut, dass Naafee Mu (unser irakischer Helfer) hier ist. Er übersetzt und schnell ist geklärt, die Familie will weiter Richtung Braunschweig. Eine halbe Stunde Recherche und mehrere Telefonate weiter ist klar, dass das von der Reiseauskunft angegebene Ruftaxi keine Kinderwagen und schon gar nicht gemeinsam mit 4 Erwachsenen und zwei Kleinkindern, mitnimmt.
Was gut, dass wir die Isomatten und die Decken haben. Es gibt zu Essen und dann liegen alle und schlafen in Sekundschnelle ein. Anvisiertes Wecken erst gg. 6:40 Uhr. Puh, das wird ‘ne lange Schicht.

   
         
    Wir finden aus den verschiedenen Zügen, die hier ihre nächtliche Endstation haben, bis sie weiterfahren können, noch 6 weitere Flüchtende. Es wird gegessen, gelacht, gescherzt und dann ziehen sich drei jüngeren Männer zum Schlafen zurück. Drei verschwinden unauffällig, was wir erst am Morgen bemerken, als wir alle rechtzeitig wecken wollen und drei schon weg sind. Da bleiben doch glatt ‘ne Tüte Reisegepäck und ein Handy über. Eine Helferin spurtet in Rekordgeschwindigkeit zum Bahnsteig, um beides an den richtigen Mann zu bringen. Erfolglos. Erst zwei Minuten vor Zugabfahrt kommt der Besitzer kleinlaut sich vielmals entschuldigen angesprintet und sammelt seine Habseligkeiten ein. Gerettet.
   
         
    Ausnahmsweise sind wir noch da und länger geblieben, für die Familie mit den kleinen Kindern, die erst kurz nach 7 Uhr weiter kann.
Zwischendurch ruft mitten in der Nacht einer unserer Helfer an und entschuldigt vielmals sein Verschlafen. Es dauert bis ich verstehe dass er mitten in der Nacht erwacht ist und mit Schrecken meinte, seinen Nachtdienst verpasst zu haben. Na Glück gehabt. Er, ihn nicht verpasst zu haben und wir, nicht ohne ihn da gestanden zu haben. Hoffentlich kann er wieder schlafen.
   
         
   

Die ersten Betten sind abgezogen, die Bezüge und Laken durch die Waschmaschine geschwommen und hüpfen nun munter durch den Trockner.
Evtl. nochmal draußen unsere Zuwegung streuen – der angetaute Schnee war über Nacht zu spiegelglatter Eisbahn gefroren.
Wir haben die 7. Schüssel Abwasch hinter uns. :-)
Alles ist wieder aufgeräumt. Die Kisten mit den neuen Unterhosen sind aufgefüllt – jetzt starten wir das Wecken – und in spätestens einer Stunde können wir uns auf den Weg nach Hause machen.

   
         
   

Wir suchen tatkräftige HelferInnen, die den einen oder anderen Nachtdienst übernehmen, um dieses vollständig ehrenamtlich und spendenfinanzierte Angebot am Hundertwasserbahnhof Uelzen aufrecht zu erhalten.
Dieser Bahnhof gehört zwar angeblich zu den zehn schönsten in Europa – verfügt aber nicht über so etwas Banales wie einen geheizten nächtlichen Warteraum für Reisende, deren Züge hier zwischen 23:46 Uhr und 1:46 Uhr enden und frühestens um 4:13 Uhr oder 5:01 oder 7:08 Uhr Anschluss haben.

Anmerkung:
In anderen Ländern sind Bahnhofsübernachtungen gang und gäbe, in Mbeya/Tansania hab ich selber die vorgehaltenen Kinderbettchen in der Bahnhofshalle gesehen, und wie ich eben ergoogeln konnte, sind sie noch immer da, hier die dazugehörige Seite: http://bue.li/reisen/alben/MT/index3.html (2. Bild von oben, vergrößern durch drauf Klicken).

   
    Das genannte Bild [Red.]:    
   
Kinderbettchen in der Bahnhofshalle in Mbeya/Tansania    
         
   

 

   
    Meine eigenen Impressionen, aus Hamburg, in Teil 16 b demnächst – versprochen !    
       
    Bis demnächst !    
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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