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"Containertagebuch 18 b"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
   

26.1.16
Bericht einer Reporterin aus Prag für „zpravy.aktualne.cz“*

Live aus Hamburg
   
   
    Flüchtlingskind in Hamburg. Foto: Zuzana Kleknerová    
         
    Nicht weit vom Hamburger Hauptbahnhof hat der Paritätische Wohlfahrtsverband eine Arztpraxis für Flüchtlinge eingerichtet. Hierher kommen hauptsächlich Flüchtlinge an, die über Hamburg weiter nach Skandinavien wollen. Leitender Arzt vor Ort ist Ernst Soldan, Arzt in Rente: „Die Flüchtlinge haben hier keinen festen Aufenthalt, und ich habe ihn hier auch noch nicht lange“ sagt der Arzt zu reportage.Aktualne.cz.    
         
   

Hamburg (eigener Bericht) – „Mohamed, 24 Jahre alt aus Afghanistan, drogenabhängig.“ Mehr nimmt der Arzt Ernst Soldan über diesen heutigen Patienten nicht auf. Nur handschriftlich nimmt er die Diagnose und die verordneten Schmerzmittel in sein rotes Buch auf (Computer werden hier nicht verwendet).
„Opiate sind bei denen zuhause an jeder Ecke zu haben,“ erklärt er, „so wie wir ein Bier holen können.“

   
    (auf der Website ist hier eine Bilderserie eingeschoben: Klick hier)
   
    Ob der junge Mann wirklich Mohamed heißt oder wirklich 24 Jahre alt ist, danach fragt er nicht. Seine Dokumente kontrolliert er nicht, möglicherweise hat er gar keine. Genauso wie die vielen anderen, die täglich in seine Praxis kommen.
„Das ist uns völlig egal. Egal, woher sie kommen oder wohin sie gehen, sie brauchen einfach Hilfe.“ sagt er.
   
         
    „Doktor“ mit arabischer Übersetzung    
   

Ernst Soldan ist einer von mehreren Ärzten, die sich im norddeutschen Hamburg um Flüchtlinge kümmern. Seine schlicht eingerichtete Praxis hat er direkt beim Hauptbahnhof – im ersten Stock des „Bieberhauses“. Hier erscheinen die Flüchtlinge, sowie sie aus dem Zug ausgestiegen sind.
Freiwillige Helfer setzen die Flüchtlinge auf Holzbänke vor eine unauffällige graue Tür mit Aufschrift „Doktor“ und der arabischen Übersetzung davon. Hinter der Tür ist alles, was der Arzt Ernst Soldan für seine Arbeit braucht. Eine Liege, ein Wickeltisch, ein Stuhl, ein Tisch und eine Planungsstafel an der Wand.
Den Wickeltisch hat ihm eine Kollegin geschenkt, deren Kinder schon groß sind. Seinen blauen Schreibtischstuhl hat er mit der U-Bahn aus seiner früheren Praxis bis zum Hauptbahnhof gebracht und über den Platz zu seiner derzeitigen Praxis geschoben.

   
         
   
    Das „Wörterbuch“ des Arztes. Foto: Zuzana Kleknerová    
         
    Die Planungsstafel vor dem Tisch ist voller Piktogramme, Bilder und Worte in deutsch und arabisch. Daneben hängt ein handbeschriebenes A4-Blatt mit vielfach korrigierten Wörtern. „Da habe ich viele Fehler festgestellt, aber fürs erste reicht’s,“ entschuldigt er sich.    
         
    Eine Flüchtlingskrise zur rechten Zeit    
   

Ernst Soldan ist 65 Jahre alt und als Arzt in Rente. „Diese Flüchtlingskrise ist zur rechten Zeit gekommen, gerade als ich in Rente ging, war das praktisch,“ sagt er und lacht. „Ich bin hier jeden Montag, Mittwoch und Freitag Vormittag. Ich bin Rentner und viel zu tun habe ich nicht mehr“ sagt er.
Hier im Bieberhaus wechselt er sich mit mehreren Kollegen ab. Nicht nur mit Rentnern, sondern auch mit Ärzten, die in Teilzeit arbeiten und sich in ihrer freien Zeit zum Mithelfen entschlossen haben. Alle behandeln Flüchtlinge als Freiwillige. Keiner von ihnen bekommt einen Euro dafür.

   
   

 

   
    In die Praxis beim Bahnhof kommen hauptsächlich sogenannte „Transitflüchtlinge“, welche über die Stadt an der Elbe weiter nach Schweden, Dänemark oder Norwegen wollen.    
         
   
    Soldan mit seinem roten Buch. Links seine Assistentin Zarife. Foto: Zuzana Kleknerová    
         
   

Die Flüchtlinge, die in Hamburg bleiben möchten, behandeln hauptsächlich Soldans Kollegen in einem Aufnahmezentrum. Solche Aufnahmezentren, „Erstaufnahmezentren“ genannt, gibt es in Hamburg momentan 33 und eine kleine Praxis existiert seit Ende November in jedem.

Auf eine Anfrage der Hamburger Ärzteschaft, die vor kurzem dafür Ärzte gesucht hat, haben sich 350 Ärzte und 150 Assistenten und weiteres medizinisches Personal gemeldet. Jeder Fünfte war damit einverstanden unentgeltlich zu arbeiten. Das einzigartige Hamburger System der ärztlichen Versorgung von Flüchtlingen möchten jetzt mehrere andere Bundesländer übernehmen.
   
         
    Eine Niere für die Flucht    
   

„Am Hauptbahnhof helfe ich seit Oktober. Zuerst habe ich in einem Container praktiziert, am 7. Dezember des letzten Jahres sind wir hierher umgezogen, was viel besser ist.“ berichtet Doktor Soldan.

„Im Container war es nicht einfach, auch wenn die Grundausstattung vorhanden war. Aber stellen Sie sich vor, wie es dort ausgesehen hat, wenn eine afghanische Familie gekommen ist. Mutter, Vater, drei Kinder, Dolmetscher und noch ich …, die haben gar nicht alle hineingepasst.“ erinnert er sich.
   
         
   
    Medikamente für Flüchtlingspatienten.
Foto Zuzana Kleknerová
   
         
   

Die Leute kommen mit allem Möglichen zu ihm. Meistens mit Erkältungen, die Afghanen mit der schon beschriebenen Drogenabhängigkeit.
„Vor kurzem kam eine Mutter mit Kind, beide mit Husten. Wie sich herausgestellt hat, hat auf der Fahrt von Bayern hierher der Bus gebrannt und beide konnten kaum atmen. Uns begegnen aber auch schlimmere Sachen“ sagt er und schweigt eine Weile.

Zum Beispiel kam eine junge Afghanin, die über große Bauch- und Rückenschmerzen geklagt hat. Als Ernst Soldan sie untersuchte, entdeckte er eine große Narbe. Die junge Frau hat sich zuhause in Afghanistan einer Nierenoperation unterzogen. Sie hat ihre Niere verkauft, um Geld für die Reise zu bekommen.
   
         
    Ein Kind, das kein Zuhause hat    
   

Viele Dramen enden hier – aber glücklich. Zum Beispiel das mit der Mutter und dem Kind, die beide starke Kiefer-Entzündungen hatten.

„Das Kind war wirklich in einem schlechten Zustand. So habe ich die hiesige Zahnklinik angerufen. Nicht nur, dass sie dort das Kind operiert haben, sie haben es mit seiner Mutter drei Tage dort behalten, anders als die deutschen Kinder, die heimgeschickt werden und nur zur Kontrolle wieder gerufen werden,“ erinnert sich Ernst Soldan. „Sie wussten nämlich, dass das Kind kein Zuhause hatte,“ berichtet er.
   
         
   
    Geschenke von Deutschen für kranke Flüchtlinge.
Foto Zuzana Kleknerová
   
         
   

Auch sonst funktioniert die Zusammenarbeit mit Hamburger Krankenhäusern ausgezeichnet. Wenn ein Arzt im Bieberhaus nicht adäquat behandeln kann, dann ruft er entweder den Rettungswagen oder telefoniert direkt mit den Ärzten in den Krankenhäusern.

„Anfangs habe ich die immer gewarnt, dass diese Leute nicht versichert sind, aber hier in Hamburg sieht man das anders. ‘Notfälle müssen wir sowieso nehmen’ sagen die.“
   
         
    Von der Patientin zur Assistentin    
   

Dem Arzt Ernst Soldan hört ein Mädchen mit Kopftuch zu, sie sitzt die ganze Zeit auf einem Stuhl in seiner Praxis. Sie heißt Zarife, stammt aus Afghanistan, 20 Jahre alt und in Deutschland lebt sie ungefähr seit vier Monaten.
„Das ist meine neue Assistentin, gerade habe ich sie entdeckt,“ sagt Doktor Soldan.

Zarife ist vor ein paar Tagen als Patientin zu ihm gekommen. Bei dem Gespräch hat er erfahren, dass sie vor der Flucht aus Afghanistan zwei Jahre Medizin studiert hat. Er hat ihr angeboten, ob sie ihm assistieren möchte – mit Übersetzungen, Begleitung in die Kliniken usw. … Und sie hat zugesagt.
„Jetzt müssen wir ihr nur noch eine Lesebrille beschaffen, die sie bei der Flucht verloren hat. Es wäre schön, wenn sie bleiben könnte,“ sagt er.

Über den Asylantrag der jungen Afghanin soll am 24. Februar entschieden werden. Auf den Entscheid des Amtes wartet nicht nur ihr Chef, sondern auch eine umfangreiche afghanische Familie, die mit ihr nach Deutschland gekommen ist.
   
         
    „Dumm und unmenschlich“    
   

Auf die Frage, warum Ernst Soldan dies alles tut, hat der Arzt in Rente eine klare Antwort: „Ich bin doch selber ein halber Flüchtling.“ Seine Mutter musste nach dem Krieg aus Pommern (im heutigen Polen) fliehen, sein Vater war im streng katholischen Bayern evangelischer Pfarrer.
„Flüchtlinge haben keinen festen Platz und ich habe ihn auch lange nicht gehabt,“ sagt er.

   
         
   

Prag mag er, war hier schon sechs oder sieben Mal, schon im Jahr 1968 hat er hier gegen die Besetzung der Tschechoslowakei demonstriert. Die ablehnende Haltung der tschechischen Politiker gegenüber Flüchtlingen kann der fünfundsechzigjährige Arzt nicht verstehen.
„Es ist unmenschlich und dumm,“ meint er.

   
         
    Autorin: Zuzana Kleknerová
Übersetzung: Zdenka Krizová
   
       
    Bis demnächst !    
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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