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"Containertagebuch 21"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
9.2.2016  

Mein kürzlich verstorbener Vater hat, so lang er das konnte, Flüchtlinge mitversorgt, zuletzt zwei iranische Familien. Deshalb wird er sich, wenn er mir noch von irgendwoher zuschauen könnte, freuen, dass sein „Wagerl“ (den Ausdruck „Rollator“ mochte er gar nicht) mit irgendeinem Flüchtling weiter fährt. Zumal es mit seiner Linkshandbremse (da rechte Hand gelähmt, nach Verwundung) eine Sonderanfertigung ist. Aber zuerst einmal muss das gute Stück auf die Bahn verladen werden, und das ist ein kleines Abenteuer.

Bis zum Bahnhof ist das ja unproblematisch. Man kann sein Gepäck damit transportieren, …
   
   
   

„bringst ‘an Kast’n Bier mit, nimmst mei’ Wagerl“ (13.8.2013).

   
         
    … wie früher den Einkauf …    
         
   

Aber auch wenn ich es noch selbst durch die liftlose Kitzinger Bahnunterführung schleppen kann, …

   
   
   

… möchte ich doch wissen, was wäre wenn nicht.

Am Bahnschalter erfahre ich, dass ich telefonisch einen Tag vorher den Zug auf das Gleis direkt vorm Bahnhof umdirigieren hätte können, aber dazu ist es jetzt zu spät. Für den ICE-Knotenbahnhof Würzburg (kein Aufzug, keine Rolltreppen) hat die gute Dame keinen Tipp – aber ich:
   
   
   

Das Zauberwort heißt „kein Ausgang“ und befindet sich im Abschnitt E eines jeden Bahnsteigs dort, offiziell ist es wohl eine Rampe für Versorgungsfahrzeuge. Aber natürlich kann auch jeder Rollstuhlfahrer so das Gleis wechseln, es steht bloß nirgends.

Im ICE blockiert das Wagerl entweder den Durchgang oder, zusammengeklappt, kippt um. Zum Glück ist der Zug nicht voll, so kann ich es auf einem Sitzplatz parken. Nett immerhin, dass ich an jeder Stufe Hilfe angeboten bekomme, vom Bahnpersonal oder von anderen Reisenden.
   
         
       
    In Hamburg gibt’s keine Hürde mehr.Im Bieberhaus ist es wie fast immer: Wenn ich „außer der Reihe“ komme, gibt’s Arbeit. Der erste Teil des Problems ist noch einfach, nämlich die von oben bis unten mit Klebeband stabilisierte Gehstütze des von Rückenschmerzen geplagten Afghanen zu ersetzen. Da haben wir freie Auswahl:    
       
   

Sein nächstes Problem: Immer wieder, seit vor zwei Jahren sein Bruder spurlos verschwunden ist, bekommt der Mann Muskelkrämpfe und Luftnot, meistens bei Stress. Die Untersuchung ergibt die wahrscheinliche Diagnose Hyperventilationstetanie, das ist eine zeitweilige Änderung des Mineralgehaltes im Blut durch die Überatmung. Medizinisch harmlos, von den Patienten als dramatisch erlebt. Meistens, insbesondere wenn die Betroffenen nicht grad akut diese Beschwerden haben, genügt es, ihnen das Problem zu erklären, was ich über den Dolmetscher auch versuche. Medikamente brauche es meistens nicht, sicherheitshalber sollte der Mann bei Gelegenheit neurologisch untersucht werden, was ich auf meinem Kurzbefundbericht vermerke.

Dann erklärt er, im Akutfall doch über ein Medikament zu verfügen, und zieht eine Tablettendose aus der Tasche: Aufschrift Warfarin.
Das ist für mich einigermaßen überraschend, verwenden wir dieses Medikament – oder das ähnliche Marcumar – hier nie als Bedarfstherapie, sondern nur bei schweren Durchblutungsstörungen wie z. B. nach Thrombosen oder bei unregel­mäßigem Herzschlag – und dann als Dauertherapie mit regelmäßigen Laborkontrollen, zur Vermeidung von Blutungen. Habibeh wiederum kennt das – im Iran sei das die übliche Behandlung dieses Prob­lems.
Andere Länder, andere Sitten, auch in der Medizin.

   
         
12.2.2016  

Heut ist offensichtlich afghanischer Mädchentag. Die jüngste, die ohne ihre Mutter herein kommt (die schläft irgendwo auf der Etage), ist sieben. Gut, dass meine Assistentin Zarife da ist, selber erst zwanzig, aber flucht- und medizinerfahren. Behutsam und trotzdem bestimmt geht sie auf die jungen Patientinnen ein.

Zwei Schwestern, 14 und 18, haben Zahnprobleme und trauen sich nicht zum Zahnarzt aus Angst, dass er ihnen die Zähne zieht; einer ist schon weg.

Ich schreibe ihnen einen Zettel, dass Zahnbehandlung dringlich aber eine Zahnextraktion keinesfalls erwünscht ist – im Gegensatz zu den bräunlichen Bruch, den ich schon öfter gesehen habe, sehen diese Zähne gut aus. Vielleicht Calcium- oder Vitaminmangel? Freitagmittag erwische ich weder Internisten noch Zahnärzte, das Zahnmobil …
   
       
   

… wie die Zahnärzte in der „Praxis ohne Grenzen“ sind erst am Mittwoch wieder erreichbar.
So bleiben Schmerztabletten, bei der einen Antibiotika und die Empfehlung, am Montag wieder zu kommen – die Reisepapiere für Schweden werden eh ein paar Tage auf sich warten lassen.

Dann haben wir noch mal das Thema Hyper-ventilationstetanie, diesmal bei einer Achtzehnjährigen. Auch hier ist der Zusammenhang mit Stress eindeutig, und ich frage sie, ob sie auf der Flucht Schlimmes erlebt hat. Da bricht sie in Tränen aus und berichtet, wie sie von türkischen Polizisten einen Hügel hinuntergestoßen worden ist.
Sie will hierbleiben, ich schreib ihr einen Arztbrief mit der Verdachtsdiagnose Posttraumatische Belastungs-störung und der Empfehlung einer baldigen Trauma-therapie, in der Hoffnung dass das irgendwas bringt. Weiter nachfragen möchte ich nicht, um keine „Flash-backs“ zu provozieren, eingedenk der Mahnung meiner früheren Psychosomatik-Chefin aus Bad Wildungen, Ingrid Olbricht:
Reiß’ keinen Bauch auf, wenn Du nicht weißt, wie Du ihn wieder zukriegst.

   
       
    Bis demnächst !    
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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