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"Containertagebuch 27 a"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
30.3.2016  

Die 18jährige Aisha (Name geändert) aus Syrien ist verheiratet und will unbedingt ein Kind, auch wenn die Rahmenbedingungen dafür nicht sehr geeignet sind – kein Asylstatus, kein fester Platz, Arbeit für sich oder den Ehemann schon gar nicht. So irrt sie mit ihrem Familienverband einschließlich ihrer Mutter und der jüngeren Geschwister durch Deutschland und hat, nachdem sie im Bieberhaus gelandet ist, die zweite Fehlgeburt erlitten. Das Krankenhaus hat eine zeitnahe gynäkologische Kontrolluntersuchung empfohlen, und das ist in der Nachosterwoche, wenn die meisten Fachärzte im Urlaub sind, nicht ganz einfach, noch dazu ohne Krankenversicherung.

Heute, am Mittwochnachmittag, hat die Praxis ohne Grenzen von 15 bis 18 Uhr geöffnet. Weil telefonisch nicht herauszubekommen ist, ob auch eine Gynäkologin da ist, will ich selber mit hinfahren, damit Aisha mit der sie begleitenden Mutter und einem medizinisch unbewandertem Helfer nicht unverrichteter Dinge zurückfahren müssen. Wenn ich etwas mache, soll es auch funktionieren. Außerdem will ich selber sehen, wie dieser interessante Laden funktioniert.

Ich erkläre also, nach „Feierabend“, per Dolmetscherin den beiden, was ich vorhabe, und wir begeben uns auf die Reise. Die Praxis liegt im Hamburger Osten, Station Horner Rennbahn (U2), die Hafenbesichtigung muss, im Gegensatz zu der Zahnarzttour nach Norderstedt-Mitte, ausfallen. Jedes Aus- oder Umsteigen bzw. jeden Richtungswechsel zeige ich mit einem Wink und einem kräftigen Jalla! an, das heißt so viel wie „Auf geht’s!“ oder „Los!“. Kennern des Kurpfälzer Dialekts (Heidelberg, Mannheim, Pfalz) dürfte das vertraut vorkommen, ihr „Alla!“ bedeutet das Gleiche. Zwischendrin bastle ich über den Google-Übersetzer Deutsch-Arabisch einen Kurzsatz und zeige ihn den beiden, solang bis mein Akku schlapp macht.

Die Praxis ohne Grenzen liegt in der Straße Bauerberg 10 im Tiefparterre eines Pflegeheims. Es ist schon ordentlich voll, wir ziehen die Nummer 878; 858 wird eben aufgerufen. Ich übergebe der Aufnahmeschwester die von mir zusammengestellte Dokumentation – ja, Frauenärzte sind immer da und auch sehr gefragt, es wird also eine Weile dauern. Ebenso sind immer Internisten und Zahnärzte vor Ort, bei Augen- und HNO-Ärzten wär’ das nicht so sicher. Und es sieht voller aus als es ist, denn fast jeder Patient kommt mit mehrfacher Begleitung, „nur die Deutschen gehen allein zum Arzt“.

Auch meine beiden Schützlinge haben schnell muttersprachlichen Anschluss gefunden, sogar eine Dolmetscherin ist dabei, so dass es bei der Untersuchung keine Probleme gibt.

Und dann sind wir nach knapp zwei Stunden auch schon dran. Aisha möchte wissen, warum sie jetzt schon zweimal in ersten Schwangerschaftsmonat das Kind verloren hat. Das kann ihr die Kollegin so schnell natürlich nicht sagen, die notwendigen Untersuchungen können erst laufen, wenn eine Krankenversicherung vorliegt, dafür hat auch die Praxis ohne Grenzen keine Möglichkeiten. Immerhin können wir mit einer Blutuntersuchung schon mal Blutgruppe mit Rhesusfaktor samt Antikörpern bestimmen, dazu das Schwangerschaftshormon HCG, von dem jetzt eigentlich nicht mehr viel da sein dürfte. Während der gynäkologischen Untersuchung geh ich natürlich raus, aber die ist unauffällig. So geht’s mit vielen Jalla’s zurück ins Bieberhaus.

Die Blutuntersuchung kann ich nächste Woche über meine „alte“ Praxis machen, der Anruf bei der Abrechnungssekretärin unseres Labors ist schon Routine, auf die Laborüberweisung kommt auf das Kostenträgerfeld „Privat – keine Rechnung nach Absprache mit Frau C.“.
Ein Hoch auf Frau C.!

   
         
   

P.S.
Gemessen an dem, was die Helfer derzeit übermenschliches in den griechischen Camps leisten, erscheint mir meine Bieberhaus-Arbeit wie ein Erholungsaufenthalt. Ein Kollege aus dem Wendland hat einen Bus gekauft, ihn mit gespendeten und gekauften Hilfsgütern gefüllt (Aus gegebenem Anlass: BITTE KEINE DECKEN MIT TIERHAAREN SPENDEN! DENKT AN DIE ALLERGIKER!!!) und ihn hustend und schniefend (siehe Klammersatz) nach Idomeni an die griechisch-mazedonische Grenze gefahren. Was er und sein Team dort leisten, hab ich in Tagebuch Nr. 27b und 27c übernommen.

   
   

P.S. II
Wir im Bieberhaus könnten es zwar auch gebrauchen, aber die in Idomeni brauchen es dringender. Deshalb zückt die Überweisungsformulare und spendet, spendet, spendet:

IBAN: DE62 2586 1990 0088 5576 00
BIC: GENODEF1CLZ
Kontoinhaber Ottavio
Verwendungszweck: Spende Flüchtlingshilfe Joost
   
       
    Bis demnächst !    
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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