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"Containertagebuch 27 b/c"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
   

Zwei Berichte des Dannenberger Arztes
Ijos Bietzker aus Idomeni

CTB 27 b:

   
30.3.2016 –
nach Idomeni …
 

Heute hat es mich richtig erwischt. Heute hat die ganze Wucht des Elends zugeschlagen. Vormittags haben wir Medikamente und Verbandsmittel sortiert, eigene mitgebrachte und gespendete und in frisch gekaufte Sortierkisten nach Anwendungsgebieten verpackt.
Gleichzeitig packten HelferInnen des Teams Sophie, Qusay, Elektra und Samia am Warehouse in Polykastro Kisten mit Babynahrung, Flaschen, Babytragen, Tragetüchern, Windeln, Feuchttüchern, Taschentüchern usw.

Plötzlich stand eine griechische Zahnärztin vor uns und fragte, ob wir Medikamente bräuchten. Inzwischen hat sich ja ein Bild herauskristallisiert, was am dringendsten oder häufigsten benötigt wird. Wir gaben dies in Auftrag. Evtl. erhalten wir in den nächsten Tagen von einer griechischen Apotheke eine entsprechende Spende. Schön wär’s.
Was z. Zt. sehr fehlt ist u.a. Vitamin D für Säuglinge und Kleinkinder und Kohletabletten.

Wir sind dann nach Idomeni gefahren, um das abseits gelegene Jesidencamp zu suchen, zu dem man uns gebeten hatte. Es sollte sich außerhalb des Hauptcamps befinden und etwa 400 Menschen umfassen. Die Versorgungssituation sollte desaströs sein – kann man so sagen!

   
         
    Nach vielen abenteuerlichen Irrungen und Wirrungen im Hauptcamp ist es uns gelungen, den Ort zu finden. Das Auto wurde wieder maximal strapaziert, beim Überwinden der steilen Böschungen und tief gefurchten Ackerflächen. Und unsere Nerven beim Fahren durch die eng zusammen gedrängte Menschenmenge. Man muss es sich so vorstellen, als wolle man am letzten Samstag vor Weihnachten durch die Fußgängerzone einer Hauptstadt mit einem Kleintransporter fahren und müsste dann auch noch unglücklicherweise mehrfach wenden.    
   

 

   
   

Angelangt fuhren wir in einen landwirtschaftlichen Stallkomplex, in dem die Menschen hausen. Die Stahlrohrbegrenzungen der Tierboxen sind mit Planen oder Decken notdürftig behängt. Damit sind einzelne Abteile für die Familien abgetrennt. Auf dem Boden liegen Decken und darauf die Menschen – vom Säugling bis zum Greis. Z. T. sind kleine Igluzelte aufgestellt, in denen 4-5 Familienangehörige hocken. In einem Abteil ist der Boden Haufen an Haufen mit Kot und Urin bedeckt. Es gibt weder mobile Toiletten, noch sonst eine hygienische Toilettenversorgung. So verwunderte es auch nicht, dass viele Kinder und Erwachsene über Durchfall, Erbrechen und Blasenreizung/-entzündung klagten. Auch sahen wir wieder viele Menschen mit Halsschmerzen, Fieber, Husten, verstopfter Nase, Ohrenschmerzen, Hyperventilations-Tetanie, Magenschmerzen, Schwangerschaftserbrechen, Sodbrennen, hoher Blutdruck, Diabetes, Arrhythmie, Augenentzündungen, Aphten, Herpes, tief kariöse Zähne mit entsprechenden Zahnschmerzen, Sonnenbrand, Sonnenallergie und leider erstmals auch Krätze usw.

   
         
   

Wir versorgten mehrere frische oder ältere Verletzungen u.a. ein Kind, dessen Hand gerade in einer Tür eingeklemmt gewesen war. Den Fuß eines kleinen Jungen mit einer tiefen bereits älteren Verbrennungsverletzung, die blutende Nase eines Kleinkind, das gerade auf dem Schotter auf die Nase gefallen war. Wir sahen schlecht verheilte Verletzungen, die sicher unter prekären Umständen chirurgisch versorgt worden sind. U.a. nach einer Oberschenkelfraktur nach einem Autounfall, nach einem Sturz auf eine Metallkante, der anscheinend zu einer Teilabtrennung des Unterarms des kleinen Jungen geführt hatte und eine unverheilte Schussverletzung, die der Betroffene nach Angaben seiner Familie an der türkischen Grenze erlitten hatte. Allen gemeinsam waren starke Schmerzen, v. a. in der Kälte der Nächte und beim Laufen der weiten Wege der Flucht und im Camp. Alle waren geduldig und ertrugen die Desinfektion und das Verbinden der Wunden ohne zu klagen. Sogar der Kleine auf dem Bild [noch nicht mitgeliefert! Red.] ließ sich klaglos die böse Entzündung seiner Wange versorgen.

   
   

 

   
   

Was, wie an den Tagen zuvor, wirklich erschreckte, war der häufig schlechte Ernährungs- und Entwicklungszustand der Säuglinge. Sämtliche Fontanellen weit offen, wie bei Neugeborenen.
Wenn wir in manchen Fällen anrieten, ein Krankenhaus aufzusuchen, wurde jeweils abgewunken. Entweder man hatte kein Geld dorthin zu gelangen und die Behandlung zu bezahlen oder man war bereits dort gewesen, hatte 150 € für den Transport dorthin bezahlt und konnte sich das nicht noch mal leisten.

Da ist ohnehin ein böses Dilemma. Angeblich droht in Griechenland eine Strafe von 80.000 €, wenn man einen unregistrierten Flüchtling im Auto mitnimmt. Wir diskutierten bereits unter Ärzten, was zu tun sei im Notfall. Anlass war eine junge Frau mit Verdacht auf Blinddarmentzündung, wo der offizielle Transport sehr lange gedauert hätte und mein Kollege Andreas mit der Patientin einfach zur Klinik fahren wollte, wovon sämtliche Helfer-Innen vor Ort aufgrund der Gesetzeslage abrieten. Ein schrecklicher Gewissenskonflikt für den wir noch keine Lösung haben.

Wir verteilten u.a. auch Wasserflaschen an die Fiebernden, die Frauen mit Blasenentzündung, die Kinder mit Durchfall usw.

Wir behandelten bis zum Dunkelwerden und erklärten mehrmals, dass nun Schluss sei, weil wir nichts mehr sahen. Aber es nützte nichts. Die Schlange an Kranken nahm kein Ende, weiter und weiter wurden Kinder herbei getragen oder im Rollstuhl geschoben.
Wir erklärten die Sprechstunde für beendet – erfolglos. Wir behandelten im Schein von Stirn-/Taschen-/Handylampen weiter. Und erst als wir zusagten, am nächsten Morgen wieder zu kommen, konnten wir am Auto aufhören und im Schein der Taschenlampen noch einen „Hausbesuch“ bei einer „bettlägerigen“ alten Frau machen. Vielleicht sollte man besser sagen, einen Lagerbesuch bei einer am Boden auf Matten liegenden alten Frau machen. Leider konnten wir nichts für sie tun, weil sie an diversen chronischen Krankheiten litt. Wir rieten mal wieder an, zumindest das Krankenzelt aufzusuchen. Wohl wissend, dass die jesidischen Menschen sich über­wiegend nicht ins Hauptcamp trauen. Wir haben die Problematik später nochmal unter OrganisatorInnen von Hilfe angesprochen, die sagten, das Dilemma sei bekannt und man suche Lösungen dafür. Jetzt ins Auto und schlafen.

   
         
         
    CTB 27 c:    
Fortsetzung:
2.4.2016 –
zweiter Bericht
aus Idomeni
von Ijos Bietzker
 

Die Situation ändert sich rasant. Mal können wir unbehelligt an die anvisierten Orte unseres Wirkens gelangen, mal verweigert uns die Polizei die Durchfahrt und lässt uns eine Stunde warten, bis wir durch fahren dürfen. Warum? Keine Ahnung!
Mal sind es wohl Proteste in oder an den Camps. Wir waren erneut im Camp der Jesiden in den Stallanlagen. Leider verweigerten alle gespendeten Blutzuckermessgeräte den Dienst, so dass wir die Versorgung der Diabetespatienten nicht durchführen konnten. Wobei das irgendwie ein Systemfehler sein muss, weil es abends im Klinikzelt bei weiteren zwei Geräten passierte. Mist aber auch.

Sowieso stelle ich fest, dass chronisch kranke Menschen so gut wie keine Behandlung erfahren. Die entsprechenden Medikamente sind oft nicht verfügbar, die PatientInnen haben mal dies, dann das Präparat bekommen – in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit, nicht der erwünschten Wirkung. Eine Kontinuität der Behandlung ist damit nicht möglich. So sehen wir wiederholt Patient-Innen mit extrem hohen Blutdrücken, Hyperglykämie, Herzrhythmusstörungen.

MitarbeiterInnen des UNHCR rufen mich um Hilfe, mich um PatientInnen mit plötzlich aufgetretenen Psychosen/Manien zu kümmern. In der Kliniksprechstunde erzählt ein völlig verzweifelter Vater, sein Sohn sei seit seiner Entführung vor 4 Jahren total verrückt geworden und benötige dringend Medikamente. Aber niemand hätte diese und hier würde sich keiner der Ärzte an die Behandlung trauen, er würde mit ihm immer abgewiesen.
Ich bitte ihn zum Ende der Sprechstunde mit dem Sohn wieder zu kommen, um mir wenigstens ein Bild zu machen, um was für eine Erkrankung es sich handeln könnte und darüber nachzudenken, ob ich eine Behandlung organisieren, entsprechende Medikamente besorgen kann. Er schleppt sich an seiner Krücke davon. Kann seit der Entführung eigentlich nicht mehr gehen. Später kommt er mit dem Sohn zurück, der wirklich unmediziert leider völlig verrückt ist und als erstes die Hosen ausziehen will. Dann fällt er Qusay, der als Übersetzer fungiert um den Hals. Ich bitte ihn am nächsten Tag wieder zu kommen, bis dahin würde ich passende Medikamente besorgen.

Doch nun hat die Polizei das Klinikzelt geschlossen. Wir dürfen nicht mehr (drin) behandeln. Aargh!
Am Abend im Park Hotel am Treffpunkt der HelferInnen in Polykastro, als wir Kriegsrat halten, fragt mich eine der ÄrztInnen, ob ich am nächsten Tag zu einem weiteren Camp (was für seine noch desolatere Lage bekannt ist) fahren könne, dort sei ein schwer psychisch erkrankter Mann, der im Zelt im Wald hause, niemand erkenne und aggressive Gewaltausbrüche habe. Der Schilderung nach, klingt es nach einer unbehandelten Psychose. Auch an ihn und seine Behandlung traue sich niemand ran.

Im Klinikzelt werde ich gefragt, ob ich einen Patienten sehen wolle, der eine Angina pectoris, evtl. sogar einen leichten Herzinfarkt habe, sich aufgrund seiner Ängste und Verkennungen, aber im Krankenhaus nicht behandeln lasse. Man habe ihn am Tag zuvor bereits ins Krankenhaus eingewiesen, wegen starker Brustschmerzen mit Ausstrahlung in den Arm. Dort sei er aufgrund seiner Erkrankung derart ausgerastet, dass man zwar gerade noch die Diagnose einer sofort behandlungsbedürftigen Herzerkrankung stellen konnte. Es zur Behandlung aber gar nicht mehr kam, weil die Polizei zu Hilfe gerufen werden musste, die den Patienten einfach rausschmiss.

Der Bruder ist nun sehr besorgt wegen der Herzschmerzen. Ich suche und finde im gesamten Arzneibestand gerade mal 6 Tabletten eines geringst dosierten Psychopharmakons – ein winziges Tröpfchen auf den heißen Stein. Meine Idee, den jungen Mann zu medizieren und dann erneut ins Krankenhaus zu schicken, lässt sich damit nicht verwirklichen. Für heute ist eine Kiste (hoffentlich) geeigneter Medikamente angekündigt – nur gibt’s jetzt keine Klinikzeltsprechstunde mehr.
Ob diese Maßnahme geeignet ist die Flüchtenden in die Militärcamps zu zwingen. Vermutlich nicht.

Wir sehen/behandeln (so denn möglich) mir bis dahin nur im Studium begegnete Erkrankungen, von Krätze über Gonorrhoe bis hin zu mehreren PatientInnen mit Leishmanose und einem Verdacht auf Tuberkulose. Auweia, was tun. WhatsApp (Danke lieber Andreas!) muss helfen. Mitten in die Behandlung eines Patienten platzt mir eine aufgeregte Menge Menschen, die eine ohnmächtige junge Patientin reinschleppen und ungeachtet dessen, dass sich im Behandlungsraum ein Patient befindet, diese auf die Behandlungsliege hinter ihm legen und eine Panik verbreiten, als sei die junge Frau bereits gestorben. Schnell die Beine angehoben, langsam kehrt Farbe ins Gesicht zurück und der Blutdruck steigt in winziges bisschen wieder. In der Hitze hat sie nichts gegessen und getrunken.
Sie weigert sich standhaft die Augen zu öffnen, dann zu trinken und den verabreichten Traubenzucker zu lutschen. Bis ich herausfinde, dass sie nicht nur umgefallen ist, sondern auch eine Magersucht hat, vergeht gut eine Stunde, in der sie das Behandlungszimmer und v. a. die Liege blockiert. Wir behandeln drumrum und müssen ohne Liege auskommen. Winzige Säuglinge untersuche ich auf dem Arm der Eltern. Die Größeren müssen stehen. Eigentlich alles ist irgendwie improvisiert. Kinder über Kinder, Halsschmerzen, Husten, Erbrechen, Durchfall, Blasenentzündungen.

Eine dramatische Wendung nimmt die Sprechstunde nochmal, als ein Patient sämtliche Symptome einer intes­tinalen/Lungentuberkulose schildert und sich keine Krankenhausaufnahme organisieren lässt. Er hat Angst, weil sein Freund 2 Jahre zuvor plötzlich im KH an denselben Symptomen gestorben ist. Eigentlich sollte alles heute, spätestens Montag organisiert werden und er erneut in die Sprechstunde kommen. Als Erstmaßnahme geben wir ihm einen Mundschutz mit. Doch nun ist die „Klinik“ zu. Er hat kein Handy/Smartphone. Hoffentlich finden wir ihn wieder.
Ich habe jetzt erneut sämtliche Unterlagen vorgelegt – ob’s in der Klinik heute weiter geht?
Wenn nicht verteile ich wieder Wasserflaschen, Unterhosen und Müsliriegel …

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Verwendungszweck:
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    Bis demnächst !    
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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