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"Containertagebuch 29 a"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
22.4.2016  

Aufgrund der menschenverachtenden Abschottungspolitik der EU schaffen es derzeit nur noch Wenige nach Deutschland bzw. ins Bieberhaus nach Hamburg. Ganz arbeitslos sind wir nicht, nachdem immer noch einzelne aus den Camps („Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung“, kurz ZEA, davon gibt’s inzwischen knapp 20 in Hamburg) zu uns kommen, um auf einem kürzeren Weg als dort etwas über ihre Angehörigen zu erfahren, die entweder schon in Skandinavien sind oder noch in Griechenland festhängen. Oder die versuchen, bei uns medizinische Hilfe für ein Problem zu bekommen, was die Ärzteteams dort nicht lösen können. Im Regelfall können wir das zwar auch nicht, aber ich habe den Eindruck, die Leute fühlen sich ernst genommen, und das ist schon die halbe Therapie. Damit will ich nicht sagen, die Kolleg/inn/en in den Camps nähmen die Leute nicht ernst, das tun sie sicher, aber sie haben bürokratische Vorgaben, und die hab ich nicht.

Zu der 18jährigen Aisha und ihren Fehlgeburten (aus Tagebuch 27a) bleibt nachzutragen, dass ihre Blutwerte in Ordnung waren, und dass es zwischen ihr und ihrem Mann auch keine Blutgruppenunverträglichkeiten gibt. Hätten sie das über ein Camp zu klären versucht, wär’ das ein längerer Angang geworden, evtl. überhaupt nicht möglich, da ja kein Notfall.

Im Bieberhaus wird fieberhaft darüber nachgedacht, wie wir die Einrichtung trotz der kaum noch ankommenden Transitflüchtlinge weiter nutzen können, einschließlich eines Konzepts, das auch nach einem Unzug in neue, kleinere Räume umsetzbar ist, wenn der Bieberhaus-Mietvertrag zum 31.8. ausgelaufen ist. Die Notkleiderkammer für Erwachsene schließt schon zum 30.4., der Restbestand kommt in die weiter laufende Kinderkleiderkammer oder in die Annahmestelle Große Elbstraße 264.
   
         
   
         
    Besucher grübeln manchmal über den Piktogrammen, die Toilettenbenutzung betreffend. Vor allem in unseren Anfangszeiten war das durchaus ein Problem. Schließlich kommen viele unserer Klienten vom Land und kannten Toiletten unserer Art bisher nicht. Und unterwegs musste es auch eher in die Büsche gehen. Im Hauptbahnhof hatte die Bahn an Gleis 14 eine Toilette zur Gratisbenutzung frei gegeben, die war dann ständig verstopft; wir Helfer hatten das Privileg, die Gästetoilette der Bäckerei Junge im Bieberhaus aufsuchen zu dürfen, wo ich zu Container-Zeiten auch Patientinnen zwecks Urinuntersuchung mit hinnahm.    
         
       
         
   

Kostenintensive Neuinstallationen wie die Sitz-Hock-Kombination einer „Multikulti-Toilette“ können wir uns hier nicht leisten; so müssen wir hinnehmen, dass die Toilettenbrillen immer wieder aus der Verankerung gerissen werden, weil man darauf schlecht hocken kann – auf dem Porzellanbecken geht das etwas besser. Umgekehrt hat dann jemand wie ich, dem die Hockposition Knieschmerzen bereitet, das kalte Becken unterm Sitzorgan.

Inzwischen gibt es den unausgesprochenen Kompromiss, dass die Klobrille zwischen Wand und Papierkorb lehnt und bei Bedarf auf die Toilette gelegt werden kann. Vor Anwendung der Klobürste legt man den Deckel, damit er nicht im Weg herumklappert, wieder an den alten Platz.
   
         
   
   

 

   
   

Solang nicht doch noch ein – meist hustender – Patient vorbei kommt, sind wir jetzt damit beschäftigt, Medikamente und Hilfsmittel umzusortieren, wenn man sie in Idomeni besser gebrauchen kann als bei uns. Auch von unserem Team möchten einige lieber dort helfen, weil da einfach mehr Bedarf ist. Ich selber werde hier weitermachen, schon weil ich in meinen alten Praxiszeiten nach einer vollen Montagsvormittagssprechstunde am Ende meiner Kräfte war – und was dort auf mich zukäme, ist eine ganze Nummer größer.
So sichte ich hier die Kartons mit gespendeten Medikamenten, sortiere aus, was ich für unbrauchbar halte – zwei Tabletten Viagra helfen dort nicht wirklich weiter – oder bei denen das Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Streng genommen könnte man davon noch einiges weiter verwenden, aber die Menschen an den EU-Außen­grenzen sollen nicht das Gefühl bekommen, wir missbrauchten sie als Müllkippe.

Zwischendrin trommle ich selber als Sammler, jetzt zum Beispiel wurde Stoma-Versorgungsmaterial für einen Querschnittgelähmten mit künstlichem Darmausgang gebraucht – zum Glück ist es inzwischen nach endlosen Telefonaten gelungen, den jungen Mann aus einem winzigen Zelt an der mazedonischen Grenze in eine Schweizer Klinik verlegen zu lassen, Sonst wäre er in absehbarer Zeit an seinen vielen infizierten Druckstellen gestorben.

Mehr dazu in einem Bericht von Volunteers for Humanitiy:
   
   

 

   
   

Hallo Ihr Lieben !
Viele fragen sich wie es unserem Sorgenkind geht. Nun, jetzt ist er in Sicherheit. Nachdem Matthias Keller die SPZ zum Committment bewegen, sowie unserem Freund alle erdenkliche Hilfe zukommen ließ und meine Wenigkeit die Rega sowie die ganze Visumsgeschichte zum Abschluss bringen konnte, durfte unser Freund heute um 12.14 einen ersten Blick auf die Schweizer Alpen in der Rega erhaschen. Danach ging’s bei noch angenehmen Wetter ohne Regen ins SPZ. Dort angekommen, wurde er als erstes in ein Inkubinatszimmer gebracht. Dort wird er die nächsten 4 Tage verbringen, bis man weiß, dass keine Bakterien oder Viren gefunden wurden.

Mit Bann, einer Irakerin und Arbeitskollegin von Rita Blaser (danke Rita) haben wir sodann, mit Bann als herausragender Dolmetscherin, im IPS darauf gewartet, unseren Freund zu sehen. Mit grünen Kitteln, Mundschutz und Handschuhen wurden wir kurze Zeit später zu dem Patienten gebracht. Ich hatte Tränen in den Augen. Dort lag er. Unsere schlaflosen Nächte waren wie weg. Ein Strahlen erhellte sein Gesicht, als Bann anfing auf arabisch mit ihm zu sprechen. Innert 30 Minuten konnten wir alle medizinischen Fragen klären und beantworten; danach haben wir ihm noch gesagt, dass wir bereits dran sind, seine geliebte Familie ebenfalls asap zu holen. Leider durften wir keine Fotos machen und auch die neue Schweizer Swatch durfte ich ihm nicht überreichen. Aber das kommt noch.

Ich bin so glücklich und so müssen sich Matthias Keller, Joost Rot und Matthias Wiedenlübbert fühlen. Was wir innert 6 Tagen erreicht haben, gab es vorher noch nie. Noch nie konnte eine private Non-NGO sowas durchsetzen. Ich fasse es noch gar nicht. Bis unser Freund den offiziellen Flüchtlingsstatus erreicht hat, zeichne ich offiziell für ihn verantwortlich. Er hat sehr wenig Kleider, eine Mütze und ein altes Handy. Bitte besucht ihn (Empfehlung: zuerst kurz absprechen, da er viele OP’s vor sich hat) und bringt ihm, was immer Euch Freude macht zu schenken. Unser Freund freut sich über alles, er hat nichts. Bitte drückt die Daumen, dass wir auch den Rest der Familie so rasch wie möglich holen können. Denn nur dann ist das Glück perfekt. Für mich ist das heute der glücklichste Augenblick seit langem!
   
   

 

   
   

Quelle:
https://www.facebook.com/groups/642195529253534/

   
   

 

   
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Letzte Änderung:
31/12/17


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