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"Containertagebuch 30"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
29.4.2016  

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge komm ich ins Bieberhaus. Mit einem weinenden, weil unsere Tagesaufenthaltsstätte zum 15. Mai schließt, da die Stadt nach der verantwortungslosen Grenzschließung der EU-Politiker mangels Transitflüchtlingen in Hamburg keinen Bedarf sieht und nix mehr zahlt. Es wird eine irgendwie geartete Ersatzeinrichtung in Bahnhofsnähe geben, evtl. ab 1. Juni, der Paritätische hat sie angemietet, d.h. irgendwas zu tun wird es auch für mich wieder geben, aber so klar ist das alles noch nicht. Entsprechend gedrückt ist die Stimmung um Haus, zumal deutlich weniger Leute da sind.

   
    Das lachende Auge sieht meinen 66. Geburtstag, was sich herumgesprochen hat. Die KITA hat mich im Vorfeld schon eingeladen, Geburtstage sind dort ein Highlight, auch für die Kinder, die sowas bisher nicht kannten.
Und auch die Arztzimmertür ist geschmückt.
   
       
         
    Zwei hustende Kinder versorgt, dann mach’ ich kurz zu und geh’ in die KITA, da gibt’s Frühstück …    
   
    Das in der Schüssel ist Couscoussalat    
         
    … und einen kleinen Geburtstagstisch:    
   
         
   

Kerzen dürfen aufgrund der Brandgefahr nicht angezündet werden, da gibt’s aus pädagogischen Gründen auch für den Doc keine Ausnahme. Und schon springen die Kinder wieder vom Tisch auf und wuseln herum, bis auf die zwei, die mit Fieber schlafend in der Ecke liegen. Mit einer Mutter, die so jung ist, dass ich sie erst für die große Schwester gehalten habe, komm ich ins Gespräch – sie ist im Gegensatz zu den arabisch Sprechenden und Afghaninnen aus Tschetschenien, weshalb mein Bröselrussisch zum Einsatz kommt.
Als ich in das Arztzimmer zurückgehe, kommt sie mit ihrer dreijährigen Tochter mit und erklärt, das Kind habe Glisti. Bis ich das nachgegoogelt hab, hat sie ihr Handy rausgekramt und mich anhand des Toilettenphotos von der selbst gestellten Diagnose überzeugt: Spulwürmer. Das passende Medikament haben wir nicht da, aber sie hat ein bissl Geld und kann das Privatrezept in der Apotheke einlösen; ich muss mich nur noch vergewissern, ob Vermox auch für Kleinkinder geeignet ist, weil das in der Roten Liste so nicht drin steht. Aber es geht, sagt die Apothekerin.
Weil wir grad bei den Toiletten sind: Irgendjemand hat wohl mein letztes Tagebuch gelesen und gemeint, es geht auch ohne Klobrillen, beziehungsweise er könne die besser brauchen. Jedenfalls sind sie jetzt weg und wir sitzen auf dem kalten Porzellan.

Immerhin haben meine afghanische Dolmetscherin und ich heute elf Patienten versorgt und nebenher für Idomeni gepackt. Joost ist kurz auf Heimaturlaub und fährt Anfang Mai, von einigen Mitbiebern begleitet, wieder hin.
   
   
         
    Und heute gibt’s nach dem Dienst noch eine Extra-Aktion. Ich hab meinen Mitbiebern mündlich und über Facebook (ja, inzwischen bin ich auch dort …) gesagt, dass ich als Geburtstagsgeschenk eine Demo möchte. Vor dem Bieberhaus und für offene Grenzen, natürlich. Zwei Tage zuvor hatte ich, ganz gesetzestreu, schon bei der örtlichen Polizei eine Kundgebung angemeldet:    
   
         
   

Dreißig bis vierzig Leute waren da (hier sind nicht alle drauf), aus dem Bieberhaus und auch aus Uelzen, für eine Standkundgebung hat’s gereicht, Lautsprecheranlage hatten wir nicht, und lauter als ein Megaphon bin ich locker.
Hab’, von Sprechchören „MACHT DIE GRENZEN AUF!“ unterbrochen, meine Wut rausgebrüllt über die Politiker, die die Menschen, die bei uns einreisen wollen und Schutz suchen, wie Dreck behandeln, und über die rassistischen Dumpfbacken, die sie wählen, wie jetzt in Österreich …
Dass sie lieber mit Massenmördern paktieren, anstatt die Geflüchteten ins Land zu lassen.
Dass dort, wo die Menschen herkommen, Krieg ist, auch wenn Herr de Maiziere meint, Afghanistan sei sicher, von dort müsse man nicht fliehen – er lügt. In 31 von 34 Provinzen ist dort Krieg, er selber musste bei seinem Staatsbesuch am 1. Februar selbst für kurze Wege den Hubschrauber nehmen, und wenige Kilometer von seinem Aufenthaltsort entfernt explodierte eine Bombe, die zwanzig Menschen in den Tod riss.

Zwei Mitstreiter/innen soufflierten mir, wenn ich nicht mehr weiter wusste..

Nach 25 Minuten war ich heiser, und mir fiel auch nix mehr ein, was ich nicht schon gesagt hatte, so beendete ich die Kundgebung und bedankte mich bei allen, die da waren, inklusive des Polizistenpärchens, die mir gratulierten und viel Glück für meine weitere Arbeit wünschten.
   
       
    Bis demnächst    
   

 

   
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Letzte Änderung:
31/12/17


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