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"Containertagebuch 31 a"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
Liebe Fans,  

ich werde immer wieder gefragt, ob das Containertagebuch weiterverbreitet werden darf – natürlich! Je mehr von diesem Drama erfahren, desto eher – naja, zu Ende geht es wohl so schnell nicht – kann so viel Druck aufgebaut werden, dass einige Politiker vielleicht doch menschlich handeln und Grenzen wieder öffnen. Vor allem weil das öffentliche Interesse am Schicksal der Geflüchteten zur Zeit schwindet.

Dabei rollt die Unterstützung für die in Griechenland Wartenden – gestern Mittag [5.5.16, Red.] ist Joost zusammen mit drei Bieberaktivisten in seinem Kastenwagen plus Anhänger wieder aufgebrochen und passiert wahrscheinlich eben die österreichische Grenze [6.5.16, 7:17 Uhr, Red.]. Dazu hat ein Kollege, der bisher im Bieberhaus mit Dienst gemacht hat, seine Hausarztpraxis für eine Woche seiner Kollegin überlassen und ist – direkt durch die Idomeni-Berichte motiviert - für eine Woche dorthin geflogen, auch von ihm wird es Berichte geben.

   
         
   

Das heißt, es werden weiter Spenden gebraucht:

IBAN: DE62 2586 1990 0088 5576 00
BIC: GENODEF1CLZ
Kontoinhaber Ottavio
Verwendungszweck:
Spende Flüchtlingshilfe Joost

   
         
   

Am Dienstag (3.5.) finde ich nachmittags in meiner ehemaligen Praxis einen Rollator vor, bepackt mit einem großem Paket Inkontinenz-Einlagen und anderem brauchbaren Pflegematerial aus einem Nachlass. Normalerweise hätte ich das gute Stück anderntags in die U-Bahn geschoben und ins Bieberhaus gebracht. Aber ich wusste, dass ein Idomeni-Transport unmittelbar bevorsteht, schließlich hatte Ronald die im Arztzimmer gestapelten Sachen gerade eben eingeladen, und eine erneute Anfahrt in die Hamburger Innenstadt ist Quälkram, noch dazu mit einem sperrigen Transporter.

   
    Ronald angerufen – er ist grad in Eidelstedt und will gleich nach Neumünster, Sachen aus der Kleiderkammer abholen. Da ist ein kleiner Umweg über Norderstedt machbar, ich simse eine Wegbeschreibung und stapele die Sachen solang in meinem portugiesischen Stammcafe (Cafe Latina, gegenüber dem Norderstedter Rathaus). Während ich dort noch einen Galão trinke, bekomme ich eine Mail von Elke aus dem Norderstedter Förderverein Flüchtlingshilfe/Neue Nachbarn, die nach Lektüre meines neusten Containertagebuchs unbedingt 200 € für das Idomeni-Projekt spenden will und mich bittet, das auszulegen. Also los zum Geldautomaten, das Geld in einen Umschlag gesteckt, Valdemar (dem Wirt) gegeben, damit die Spende gleich in die richtigen Hände (Joost) kommt. Dass ich dem keine 24 Stunden später selbst gegenüberstehe, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.    
         
4.5.2016, 7:00  

Ich bin grad aus dem Bett gestolpert, da meldet sich schon R. (Personen- und Ortsnamen aus Personenschutzgründen geändert), von der ich mich schon verabschiedet hatte, weil sie mit nach Idomeni will. Sie hat eine junge Frau aus der ehelichen Wohnung befreit, mit Polizeiunterstützung, wegen häuslicher Gewalt. Da sie bis über beide Ohren in Reisevorbereitungen steckt und sich gleich mit Joost treffen will, fragt sie, ob ich die Frau übernehmen und in ein Frauenhaus bringen kann.

Also setze ich, nach dem Frühstück natürlich, entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten mein Auto in Bewegung, denn eine Schutz Suchende kann man schlecht mit der U-Bahn transportieren, und kämpfe mich durch den Innenstadtstau. Das mache ich nur selten, deshalb eingeschränkte Orientierung, und sowas Neumodisches wie Navi hat mein Auto nicht, geschweige denn könnte ich es bedienen. So kommt der gute alte Falkplan zum Einsatz, außerdem scheint die Sonne und gibt mir wenigstens die Himmelsrichtung vor. Zwischendrin ruf ich mal R. sowie Joost an, wo ich überhaupt hin muss, aber beide stecken auch im Stau, und der Wendlandbewohner Joost kennt sich in der Großstadt nicht aus.

   
         
    Im Bieberhaus hab ich mich abgemeldet und meine Dolmetscherin zu den Landungsbrücken bestellt. Dorthin komm’ ich auch einigermaßen durch, da wegen des Hafengeburtstags am Wochenende schon einiges abgesperrt ist, ausgenommen Anlieger, der ich jetzt kurzfristig zu sein beschließe*, bis ich meine Dolmetscherin eingesammelt habe.
Beifahrerin mit Stadtplan ist in dieser Lage schon mal sehr gut, noch besser dass sie auf die Hausnummern achten kann, ich muss nämlich zur Nr. 264 in der Großen Elbstraße zu Hanseatic Help, dem riesigen Lager für alle gespendeten Sachen. Joost und R. sind schon eine Weile nicht mehr ans Telefon gegangen, und als wir in den Betonhallen stehen, erkenne ich auch warum: Funkschatten. So konnte mir R. auch nicht mehr erklären, dass sie unsere Klientin inzwischen bei der Bundespolizei am Hauptbahnhof abgeliefert hat, damit sie Schutz hat, wenn sich ihr Mann meldet.
   
         
   

Also doch zum Hauptbahnhof. Da der Hafenrand, an dem ich mich noch einigermaßen auskenne, gesperrt ist, und der Anliegertrick jetzt auch nicht mehr hilft, wühle ich mich wieder durch die Innenstadt und verfranse mich mehrmals, denn meine Beifahrerin findet auf dem Plan die Straßennamen nicht so schnell wie die wechseln. Irgendwann sind wir doch da, ich entrichte für eine Stunde 2.50 € Parkgebühr und wir gehen zur Bundespolizei. Beamtin wie Klientin sind froh, dass endlich eine gemeinsame Sprachverständigung möglich ist. Die Lage ist die, dass die junge Frau gegen ihren Willen verheiratet wurde und inzwischen ihren Angetrauten „nicht mehr riechen“ kann. Sie ist schon mal geflüchtet und wurde vom weit verzweigten Clan des Ehemanns in einer weit entfernten Stadt wieder aufgegriffen. Jetzt will sie nur noch weg, aber da wo sie herkommt ist Krieg, da kann sie nicht wieder hin. Zumal auch ohne Krieg dort mit Frauen in einer Weise umgegangen wird, die keiner Frau zumutbar ist.
Lange Debatte, einerseits will sie in ein Frauenhaus, andererseits sich vorher noch von der Familie verabschieden, wobei wir (Polizei, Dolmetscherin und ich) befürchten, dass die sie belatschern wieder dorthin zurückzukehren. Und das richtige Frauenhaus zu finden, ist das nächste Problem. Man kann ja nicht einfach dort klingeln, ob ein Zimmer frei ist. Zumal verständlicherweise nur Eingeweihte den Standort dieser Häuser kennen.

   
    Bei dem einzigen, das ich kenne, hab ich im Vorfeld schon angerufen. Die Betreuerin erklärte mir die Prozedur, damit die Kosten auch übernommen werden, dass sie mir aber keine Zusage machen könne, zumal das ganze Team für den Rest des Tages auf Fortbildung und nicht mehr erreichbar sei. Von der Polizei bekomme ich eine Hotline, bei der ich die Telefonnummern mehrerer Frauenhäuser bekomme und die Auskunft, dass im Frauenhaus von … eine Betreuerin wäre, die die Landessprache der Betroffenen spricht. Ich rufe dort an und werde auf eine Mobilnummer verwiesen. Dort meldet sich eine Bewohnerin, ja, es sei noch ein Platz frei, aber das Team sei in einer Besprechung und sie könne als Bewohnerin natürlich keine Zusage machen.    
         
   

Ich beschließe, mit der jungen Frau auf Verdacht dorthin zu fahren. Wenigstens eine Beratung in der Landessprache kann dort stattfinden, dann sehen wir weiter, und lasse das so auch durch die Dolmetscherin erklären, die sich, weil inzwischen 14 Uhr, verabschieden muss. So kämpfen wir uns …zig Kilometer durch den beginnenden Feierabendverkehr des Hamburger Umlands. Zwischendrin möchte meine Klientin telefonieren, ihr eigenes Gerät funktioniert nicht. Ich geb’ ihr meins, darf ja eh nicht während der Fahrt. Sie telefoniert die ganze Fahrt lang nonstop mit einem Mann – immerhin, wie ich später erfahre, war es nicht der Ehemann, sondern ein „Vertrauter“ – bis wir in … angekommen sind und ich auch mal möchte, wenigstens den Standort durchgeben.

Dann geht alles ganz schnell. Ich bekomme die gleiche Bewohnerin an den Apparat wie eben: Sie hat inzwischen geklärt, dass eine Aufnahme möglich ist und dirigiert mich zum Parkplatz eines Einkaufszentrums. Zwei Minuten später nehmen zwei junge Frauen meine Klientin in Empfang – super organisiert, Hut ab.

   
         
    P.S.    
   

Falls sich jetzt jemand über die rückständigen orientalischen Sitten, die derartige Zwangsehe-schließungen ermöglichen, mokieren möchte – so weit weg sind bzw. waren wir Mitteleuropäer davon auch nicht. Vor wenigen Jahrzehnten waren derartige „arrangierten Ehen“ in hiesigen Adelskreisen oder auf dem Land gang und gäbe.
Ich erinnere mich an TV-Sendungen aus den Sechzigern, zum Beispiel Ohnsorg-Theater oder „Komödienstadl“, mit dem Thema, dass sich ein junges Paar liebt, aber nicht zusammen kommen darf, weil die jungen Leute von den Eltern schon anderweitig verplant sind, zum Beispiel zwecks Zusammenlegung der Agrarfläche zweier Großfamilien zu einer noch größeren. Im Film ging das im Regelfall noch gut aus, d.h. die Liebenden bekamen sich am Ende doch, aber das reale Leben ist halt kein Ohnsorgtheater.

   
       
    Bis demnächst    
   

 

   
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Letzte Änderung:
31/12/17


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