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"Containertagebuch 36"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
   

Liebe Tagebuch-Fans,
das war jetzt eine lange Pause, ich hoffe die nächste wird kürzer.
Wer nachlesen möchte was bisher passiert ist, seit im Herbst letzten Jahres die Zelte vor dem Hamburger Hauptbahnhof standen, sollte in den bisherigen Containertagebüchern nachlesen: Siehe Inhaltsverzeichnis am unteren Seitenende.
Noch einen schönen Sommer, so weit wie möglich, wünscht euch

   
   

Ernst

   

 

       
10.8.16  

 Es geht nicht vorwärts. Außer dass immer mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken, trotz Seawatch und anderer Rettungsmissionen. Wenn man sich Berichte wie den folgenden anhört (Video im Link anklicken) und dann immer noch die Forderung nach sicherer Einreise für Flüchtende samt Familiennachzug ablehnt, sollte man sich ehrlicherweise selbst wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit anzeigen:

   
http://sea-watch.org/sea-watch-2-·-crew-7-einsatzleiter-johannes-bayer-ueber-die-letzten-tage
         
   

By the way, weil jetzt alle vom Terror sprechen:
Riaz Khan Ahmadzai, der Attentäter von Würzburg, war ein einsamer junger Mann – ein rechtzeitiger Nachzug seiner Familie hätte ihn womöglich psychisch so weit stabilisiert, dass er erst gar nicht auf die Wahsinnsidee gekommen wäre, mit einer Axt in den Zug zu steigen.
Und Mohamed Daleel zündete seine Rucksackbombe in Ansbach zwei Wochen nachdem er den Abschiebebescheid der Ausländerbehörde bekommen hatte.

   
         
   

Ich will hier niemanden exkulpieren, natürlich ist jeder Täter für seine Tat verantwortlich, aber mit mehr menschlichem Verhalten seitens der Behördenmitarbeiter/innen hätten dieses Bluttaten vermieden werden können, bzw. würden ähnliche in Zukunft vermieden. Stattdessen kommen jetzt Politiker daher, die sich christlich nennen und trotzdem nach noch mehr Abschiebung und Abschottung geifern – sie gießen damit Öl ins Feuer und wundern sich dann wenn’s brennt.

   
   

 

   
   

Natürlich leben jede Menge Geflüchtete in Hamburg, mit Registrierung und ohne. Erstere werden in Hamburg leidlich über die medizinischen Dienste der Erstauf-nahmeeinrichtungen versorgt, die Bewohner der Folgeeinrichtungen (oft Containerdörfer) haben Versicherungskarten und „dürfen“ sich ihre Hausärzte selber suchen.
Spätestens wenn fachärztliche Behandlung nötig ist, wird’s kompliziert. Denn anders als bei „Normal-Patienten“ darf die ärztliche Behandlung nur Schmerzen und lebensgefährliche Zustände lindern bzw. beseitigen.
Wobei posttraumatische Belastungsreaktionen zwar als letztere gelten, aber die Behandlungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt sind, da viel zu wenige vorhanden. Das von Segemi e.V. zu betreuende medizinisch-therapeutische Zentrum für Geflüchtete und Folteropfer, das in Hauptbahnhof-Nähe angesiedelt werden soll (und in dem ich gern mitarbeiten möchte) konnte seine Arbeit vor Ort immer noch nicht aufnehmen, wegen weiterhin laufender Verhandlungen.

   
         
   

Die Schwierigkeiten von Geflüchteten, selbst bei vorhandener Krankenversicherung, bekomme ich immer wieder hautnah mit. So brachte eine Helferin auf den wöchentlichen „Bieberhaus-Stammtisch“, auf dem sich die ehemaligen Helfer/innen treffen, einen jungen Afghanen mit, der wegen einer kürzlich erfolgten Abszess-Operation einen regelmäßigen Verbandwechsel gebraucht hätte. Das Krankenhaus, in dem er operiert wurde, hatte ihn abgewiesen, weil seine Überweisung nur für eine einmalige Behandlung galt – es hätte „täglicher Verbandswechsel“ auf dem Papier stehen müssen! Eine solche Unterscheidung gibt es für „Normalpatienten“ nicht.

   
   

 

   
   

Jetzt kann ich in einer Shisha-Bar keine Op-Wunden verbinden, selbst wenn ich das entsprechende Material dabei gehabt hätte. Die Helferin wollte den Schmerzgeplagten auch anderntags zu ihrer Hausärztin bringen, damit die die „richtige“ Überweisung schreibt. Blieb noch das Schmerzmittel – rezeptfreie Medikamente hätten da nicht viel gebracht. Ich also mit dem Mann zur Hauptbahnhof-Apotheke und ein gescheites Schmerzmittel gekauft – zu allem Überfluss hatte ich meinen Arztausweis vergessen, aber die nette Nachtschicht-Apothekerin kannte mich von meinen früheren Einsätzen und verzichtete auf das Dokument.

   
   

 

   
   

Auch werden Bundesländergrenzen für Geflüchtete zu unüberwindbaren Hindernissen. So darf ein Norderstedter Kinderarzt keine Hamburger Flüchtlingskinder behandeln, selbst wenn der Weg zu ihm kürzer ist als zum nächsten Hamburger Kollegen – für Außerhamburger: Norderstedt grenzt unmittelbar an Hamburg, liegt aber in Schleswig-Holstein. Nur der Grenzzaun fehlt (noch).

   
         
   

Ab nächsten Montag darf ich jetzt – auf Initiative einer ehemaligen Bieberhäuslerin – doch wieder aktiv sein und ähnlich wie im Container  bzw. zuletzt im Bieberhaus eine Sprechstunde anbieten, wenigstens einmal in der Woche.

   
   

Mehr dazu, wenn ich weiß wie es angelaufen ist.

   
   

   
   

Bis demnächst!

   
         
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Letzte Änderung:
31/12/17


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