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"Containertagebuch 38 a"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
   

Seit zwei Wochen hab ich im Rahmen der Flüchtlingsversorgung einen neuen Job.

   

 

 

In einer Schule von „Alraune“ in Hamburg-Dulsberg werden Vorbereitungskurse für die BAMF-Integrationskurse abgehalten, vor allem Deutschkurse. Die meisten Teilnehmer sind Eritreer, die in den nebenan auf dem Schulhof gestellten Containern wohnen. Mir wurde von einer dort tätigen ehemaligen Bieberhaus-Mitarbeiterin gesagt, dass die meist jungen Leute zwar AOK-Versicherungskarten hätten, aber nichts damit anzufangen wüssten. So langsam fange ich auch an zu verstehen warum.

   
    Meine zweistündige Sprechstunde findet montags in einem Unterrichtsraum statt, in den man eine Untersuchungsliege gestellt hat. Die übrigen Utensilien – Stethoskop, Blutdruck- und Zuckermessgerät, Urinteststreifen und Protokollbuch – bringe ich im Rucksack mit. Die Patienten, fast nur junge Männer, warten vor dem mit Stellwänden von der Aula abgetrennten „Sprechzimmer“. Mit dabei sind zweitweise eine Mitarbeiterin der Einrichtung und, unerlässlich, eine Dolmetscherin. Denn wenn ich inzwischen auf Arabisch und Farsi/Dari (Afghanen) die Leute wenigstens begrüßen kann und sagen, wer ich bin, und noch ein paar nützliche Sachen, …    

   
   

… verstehe ich von der in Eritrea gesprochenen Sprache Tigrinya bisher absolut garnichts.

   
   

Ein Patient hat zum Beispiel seit vielen Jahren Atembeschwerden. Auf der Lunge höre ich nichts, dafür hat er Narben am ganzen Körper, die zum Teil Zigarettenbrandnarben ähneln, wie ich sie bei von der türkischen Sonderpolizei gefolterten Kurden kenne, oder Striemen wie von Peitschennarben, die ich gelegentlich bei Taliban-Opfern gesehen habe.

   
   

„Nein,“ sagt die Dolmetscherin, „er ist nicht gefoltert worden, das waren traditionelle Heiler in der Heimat, die ihm so die Krankheit austreiben wollten.“

   
         
   

Ich untersuche die Leute und gebe ihnen Empfehlungen für Haus- oder Facharzt. Da sie ohne Dolmetscherin dort nichts ausrichten können und eine Sammelsprechstunde bei einem Hausarzt, der die Patienten noch gar nicht kennt, schwer zu organisieren ist, werden einige demnächst in Begleitung eine Rundreise durch Hamburg nach Norderstedt antreten – die Linie U1 gleicht einem U (deshalb heißt sie U-Bahn …), und Dulsberg liegt fast am rechten Zipfel des U und Norderstedt am linken. Dann gibt’s eine Eritreer-Sprechstunde in meiner ehemaligen Praxis, in der ich als angestellter Teilzeitrentner noch gelegentlich tätig bin.

   
         
30.8.16   Eigentlich wollte ich mir nur eine Bahnfahrkarte kaufen. Da das diesmal wegen undurchsichtiger Rabattgeschichten etwas komplizierter zu werden droht, fahre ich zum Reisezentrum des Hamburger Hauptbahnhofs. Damit fertig, sprechen mich vor der Bahnwache der Polizei ein paar Flüchtlinge an, die mich aus dem Bieberhaus kennen – das passiert mir öfter. Es gibt wieder mal ein Problem:    
    Ein junger Mann, laut Attest schon vor oder während der Flucht an Depressionen leidend, ist aus einem schwedischen Krankenhaus zu Bekannten nach Hamburg geflüchtet. Nachts hat er Alpträume gehabt und so geschrieen, dass auch seine Gastgeberfamilie nicht schlafen konnte. Jetzt will er in Hamburg versorgt werden, und seine Bekannten wollen ihn auf der Bahnwache registrieren lassen. Spontan halte ich das für keine gute Idee, weil ich nicht weiß, ob er da so schnell wieder raus kommt. Biete an, erst mal selber zu fragen, denn mich würden sie wohl nicht dabehalten.    
   

Ich rein, stelle mich vor und beschreibe die Lage. Die Antwort ist deutlich.
„Der junge Mann ist in einem Land des Schengen-Raums registriert. Hier hält er sich illegal auf. Ich müsste die Kriminalpolizei und die Ausländerbehörde informieren.“
„Das heißt, der junge Mann sollte besser nicht hier reinkommen?“

   
   

Der Gesichtsausdruck des jungen Beamten lässt sich als Zustimmung deuten. Ich denke, er hat keine Interesse an noch mehr Arbeit, zumal er sie nicht extra bezahlt bekommt, und ich keines daran, dass der arme Kerl da draußen noch mehr Probleme kriegt.

   
    Ich bedanke mich, verlasse die Wache, winke die ganze Gruppe erstmal weg von diesem nunmehr neuralgischen Punkt und erkläre ihnen die Lage. Dieses Chaos kann allenfalls ein versierter Rechtsanwalt entwirren, denn wenn der arme Mensch ohne Papiere jetzt wieder versucht, nach Schweden zurückzukommen, werden sie ihn womöglich nicht wieder reinlassen. Ich kann jetzt nur noch in die Apotheke gehen, ein paar Beruhigungstabletten kaufen und dem Begleiter in die Hand drücken mit dem Rat, ihm jeden Abend eine zu geben, damit alle Beteiligten vielleicht ein bissl besser schlafen können.    
       
   

Bis demnächst!

   
   

 

   
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Letzte Änderung:
31/12/17


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