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"Containertagebuch 45"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
Freitag, 2.12.2016  

Norderstedt, Segeberger Chaussee 98a
Gestern spätabends war es durch die sozialen Medien gegeistert: In Norderstedt macht morgen „Thor Steinar“ auf, ein Laden, dessen Ware sich speziell an rechtsradikale Hetzer und Schläger richtet. In Glinde musste er nach fünfjährigem Bürgerwiderstand schließen, jetzt wollten sich diese Banditen in Norderstedt niederlassen. Ein rechter Treffpunkt, und nichts anderes ist ein solcher Laden, ist eine Bedrohung für alle, die ins rechte Feindschema passen, meine Person inbegriffen. Da muss ich hin.

   
10:15  

Im Laden röhrt eine Flex, davor zwei Streifenwagen mit Besatzung, auf dem Gehsteig ein kleines Häuflein spontan zusammen gefundener Demonstranten hält mit Punkmusik dagegen. Ein Beamter kommt auf uns zu, erklärt uns zu einer „natürlich erlaubten“ Spontankundgebung, möchte aber einen Ansprechpartner haben. Nach kurzer Beratung, und weil ich der Älteste bin, erkläre ich mich dazu bereit.

   
   
11:00  

Die Flex hat aufgehört, Nazi-Kunden waren noch keine da, der Parkplatz wird immer voller. Inzwischen sind vier Einsatzwagen der Polizei vor Ort und zwei mit der Aufschrift „Ordnungsamt“. Die Zahl der Demonstranten hat sich von ca. 15 auf 25 erhöht, ein Stadtratsabgeordneter der Linken gibt dem NDR ein Interview, der „Ghettoblaster“ eines Demonstranten versucht mit Punkmusik gegen den Verkehrslärm dieser Durchgangsstraße anzutönen, in der kaum Fußgänger unterwegs sind (so dass wir Schwierigkeiten haben, unsere eben gedruckten Flugblätter los zu werden).

   
11:30  

Auftritt Pressesprecher der Polizei Segeberg (das ist unsere Kreisstadt) in Uniform und blauer Weste. Er erklärt der Presse, der Laden werde geschlossen, weil keine Genehmigung vorliege. Danach werde ich (als „Versammlungsleiter“) auf den Parkplatz gebeten, und der Leiter des Ordnungsamts sagt mir das nochmal ganz genau: Es hätte einer Nutzungsänderung bedurft, die muss erstmal im Bauausschuss genehmigt werden – oder auch nicht. Wobei der in diesem Jahr nicht mehr tagt.  Solang bleibt der Laden geschlossen (und das ist er, Anmerkung 10.1.17, immer noch, die Beschriftung ist inzwischen auch weg).
Unsere eben ein getroffenen und noch stark nach Farbe riechenden Transparente können wir somit nicht mehr einsetzen. Heut jedenfalls nicht, das kommt noch. Ein Erinnerungsphoto, dann geht’s heim.

   
   

 

 

Ich bilde mir jetzt nicht ein, dass allein wir 25 Hanseln und Greteln in anderthalb Stunden geschafft hätten, wozu die Glinder fünf Jahre brauchten. Aber unser Protest hat die zuständigen Stellen der Stadt wach werden lassen, Norderstedt hat ein Image als „weltoffene Stadt“, an dem alle derzeit im Rathaus vertretenen Parteien beteiligt sind – so hat auf einer Kundgebung am 18. März 2015 mit eben diesem Thema auch unser ursprünglich von der CDU nominierter (und kürzlich ohne Gegenkandidat wieder gewählter) Oberbürgermeister gesprochen (Link existiert nicht mehr [Red. 7.12.17]).
Fazit: Nazis haben in Norderstedt nichts verloren, da besteht in dieser Stadt Einigkeit.

   
   

 

   
1.1.2017  

Überall in den Städten sieht man sie, sitzen, knieen oder stehen, die Bettler/innen aus Rumänien und Bulgarien, oft Roma, aber nicht nur. Ich hab mir schon angewöhnt, ihnen die Entsorgung meiner Wasserflaschen zu überlassen, wenn ich sie ausgetrunken habe. Persönlichen Kontakt hatte ich bisher noch zu keinen dieser Leute.
Jetzt ruft mich eine ehemalige Bieberhaus-Mitstreiterin an. Sie erzählt von einer jungen Rumänin, die mit Mann und zwei Kindern, zehn und zwölf, hier überwintert, weil der heimatliche Wohnverschlag nicht wintergeeignet ist, und es in der Region dort keine Arbeit gibt. Immerhin gehen die Kinder zur Schule. Das erbettelte Geld reicht kaum, um die Busfahrt hierher und zurück sowie das winzige Pensionszimmer (45 € pro Nacht) zu bezahlen, viel Erspartes für die Zeit in der Heimat kann da nicht übrig bleiben.
Als die Helferin den Kindern ein bissl Spielzeug mitbrachte, machten die große Augen: Spielzeug hatten sie in ihrem Leben noch nie gehabt.
Die Rumänin habe jetzt starke Schmerzen in der Nierengegend, sagt die Helferin, ob ich mal nachschauen könne.
Am nächsten Morgen geh ich hin, mit Urinteststreifen im Rucksack; vorher hab ich die Patientin angerufen, sie möchte etwas Morgenurin auffangen und für mich stehen lassen.
Die Gegend hinterm Hauptbahnhof, wenige Meter von den Einkaufsmeilen der Moenckebergstraße entfernt, sieht verlassen aus. Zwei Drogis kommen mir entgegen und rufen laut den Namen des Medikaments, das sie suchen. In der Münzstraße hält mir ein spanisch sprechendes Pärchen den Zettel des Winternotprogramms entgegen und fragen, wo das ist. Ich kann es in meinem Bröselspanisch erklären – allein es hat für heute Morgen schon zu, und vor den geschlossenen Containern lärmt ein Bagger auf den Trümmern des geräumten Kommunikationszentrums „Koze“.
Das Pensionszimmer, in dem mich die Patientin und ihre Tochter erwarten, ist nicht breiter als das quer darin stehende Bett lang; zwei Stühle, ein Tisch, und das Zimmer ist voll.

Ich nehme das Marmeladenglas mit dem Urin auf die Toilette mit und halte den Teststreifen hinein: Alles normal, keine Blasen-, insbesondere keine Nierenbeckenentzündung. Dafür schmerzt der ganze Rücken, egal wohin man drückt. Das wundert mich nicht – wenn ich die Leute auf der Straße knieen oder sitzen sehe, tut mir schon vom Hingucken der Rücken weh.

Wärme wär nicht schlecht, das verträgt sich aber nicht mit der „Arbeit“, ansonsten Schmerzmittel, wovon ich da lasse, so viel ich habe. In der Hoffnung, dass Magen und Nieren das vertragen.

   
   

 

   
7./8.1.2017  

Meinen Hanseatic-Help-Einsatz (www.hanseatic-help.org) muss ich auf Sonntag verschieben, weil heute kurzfristig eine Demo angesetzt ist gegen die unmenschliche Abschiebepolitik des Hamburger Senats, der im Gegensatz zu den Nachbarländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bremen jetzt auch Menschen nach Afghanistan deportiert hat, zum Teil vorher nach Gestapo-Manier nachts aus den Betten gerissen. Wer wissen möchte, wie diese unmenschliche Prozedur abläuft, kann sich zwei NDR-Reportagen dazu anschauen:
https://www.youtube.com/watch?v=sj20-D5rYcM

[Der zweite Link existiert nicht mehr; Red. 7.12.17]

Bekanntermaßen, sogar laut „Tagesschau“ [Link ist ebenfalls erloschen; Red. 7.12.17], herrscht in Afghanistan Krieg, und es ist in gar keiner Weise ein „sicheres Herkunftsland“. Auch das Auswärtige Amt hat eine Reisewarnung herausgegeben:

   
   

Vor Reisen nach Afghanistan wird dringend gewarnt. Wer dennoch reist, muss sich der Gefährdung durch terroristisch oder kriminell motivierte Gewaltakte bewusst sein. Auch bei von professionellen Reiseveranstaltern organisierte Einzel- oder Gruppenreisen besteht unverminderte Gefahr, Opfer einer Gewalttat zu werden.
Für zwingend notwendige berufliche Reisen nach Afghanistan gilt: Der Aufenthalt in weiten Teilen des Landes bleibt gefährlich. Jeder längerfristige Aufenthalt ist mit zusätzlichen Risiken behaftet. Bereits bei der Planung des Aufenthaltes sollten die Sicherheitslage und die daraus resultierenden Bewegungseinschränkungen beachtet werden. Zudem sollte der Aufenthalt auf der Basis eines tragfähigen professionellen Sicherheitskonzepts durchgeführt werden.

   
   

Auf die Demo am Samstag sind trotz Blitzeis, Kälte und Regen achthundert bis tausend Leute gekommen:

   

   
         
   

Am Sonntag versuche ich wieder, bei Hanseatic Help gegen den Kistenstapel anzukämpfen, der seit dem letzten Mal nicht kleiner geworden ist. Zwei bekomme ich innerhalb drei Stunden ausgepackt. dabei fällt mir ein T-Shirt auf, das offiziell Größe S hat, aber inzwischen so eingelaufen ist, dass ich es zum Kindertisch hinüberbringe, und ich frage mich, welchen Weg das gute Stück hierher wohl genommen hat:

   

 

     
       
   

Bis demnächst!

   
         
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Letzte Änderung:
31/12/17
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