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"Containertagebuch 46"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
   

Liebe Tagebuchfans,
es war jetzt länger Sendepause, zum einen war ich nochmal in Rom, diesmal nicht beim Papst sondern um mir die Stadt nochmal in Ruhe anzuschauen, zum andern kann man nicht alles, was man erlebt, veröffentlichen, schließlich gibt es eine ärztliche Schweigepflicht. Wer neu im Verteiler ist: Herzlich willkommen! Unten unter "Inhaltsverzeichnis" könnt Ihr nachlesen, was bisher, d. h. seit Herbst 2015, passiert ist.
Herzliche Grüße
Ernst

   
10.3.2017  

In Horst bei Boizenburg/Elbe gibt es, vollkommen abgelegen, eine ehemalige Kaserne der Nationalen Volksarmee der Ex-DDR. Eigentlich wollte nach der Wende dort niemand mehr hin. Aber zur Zwischenlagerung von Geflüchteten und von Bürokraten, die über den Verbleib der Betroffenen entscheiden sollen, taugt die Anlage bisher doch, man hat sie sogar ausgebaut zu einer „Erstaufnahmeeinrichtung“ für Geflüchtete mit Zuteilung nach MeckPomm oder Hamburg. Etwa 400 Menschen vegetieren dort, dazu eine größere Anzahl Betreuer, Wachleute, Sachbearbeiter – gefühlt parken dort ca. hundert Autos, und die gehören sicher nicht den Geflüchteten.

   
   
   

Photographieren ist (eigentlich) verboten, ehrenamtliche Helfer wie wir dürfen nicht ins Camp, und wenn man vor der Kabelbrücke über der Lagereinfahrt steht, überkommt einen schon die Vorstellung, dass da oben eigentlich ein Spruch fehlt, den ich hier lieber nicht hinschreibe.

   
   
   

Nach Lauenburg (Schleswig-Holstein) und Hamburg dürfen nur die „Hamburger Flüchtlinge“, für die nach MeckPomm Zugeteilten ist in Boizenburg Schluss. Immerhin wird die Landesgrenze nicht kontrolliert, bisher.

   
   

 

 

„Willkommen“ ist relativ

   
   

Aus einer Stellungnahme des Flüchtlingsrats Hamburg/Schleswig-Holstein:

   
   

Es gibt fast keine Infrastruktur, am Wochenende fährt zwischen dem Lager und den nächsten Ortschaften kein Bus. Der Kontakt zu Rechtsanwält/innen oder Unterstützer/innen wird durch die Abgeschiedenheit sehr erschwert oder unmöglich gemacht. Beim Verlassen des Geländes müssen die Flüchtlinge ihre Personalien abgeben.
Psychische Probleme der dort lebenden Menschen, hervorgerufen durch traumatische Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht, werden durch das Lagerleben verstärkt. Die schlechte medizinische Versorgung im Lager bietet keine ausreichende Hilfe, auch nicht bei anderen schwereren Erkrankungen. Die monotone Ernährung besteht jeden Tag aus der gleichen Mahlzeit und bietet keinerlei Abwechslung. Die Kinder der Familien können auf keine regulären Schulen gehen und erhalten völlig unzureichenden Unterricht, der den kindlichen Bedürfnissen überhaupt nicht gerecht wird. Die für Hamburg geltende allgemeine Schulpflicht wird somit ignoriert.

Im Lager in Horst zu leben, bedeutet für betroffene Flüchtlinge systematisch entmündigt und erniedrigt zu werden. In Horst findet ganz offensichtlich politisch gewollte Isolation, Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen statt. (…)
Obwohl in Hamburg genügend städtische Gebäude leer stehen, die eine humanere Unterbringung möglich machen würden, wird weiterhin an diesen Methoden festgehalten.

   
   

 

   
   

Um diese Isolation wenigstens ansatzweise zu durchbrechen, fahren Aktivist/inn/en der Antira Horst AG regelmäßig dorthin (Treffpunkt Hamburg Hauptbahnhof 8:00 Uhr jeden 2. und 4. Freitag) und bieten eine Rechts- und medizinische Beratung an, ich war jetzt das erste Mal dabei. Der Flüchtlingsrat hat sich einen Beratungscontainer erkämpft – ob wir hinein dürfen bzw. ob er uns aufgesperrt wird, ist Glücksache. Diesmal hatten wir Glück.

   

 

   
   

Da wir nicht ins Camp hinein dürfen, und unser Container außerhalb desselben liegt, sind wir auf Mund-zu-Mund-Propaganda angewiesen. Die funktioniert heute, und es hat sich eine Gruppe von Menschen aus Afghanistan, Somalia und Tschetschenien eingefunden. Einige haben bereits Ablehnungsbescheide von deutschen oder schwedischen Behörden bekommen und kämpfen jetzt verzweifelt darum, nicht ins Herkunftsland oder nach Schweden abgeschoben zu werden. Denn von dort droht sich die Deportation direkt nach Somalia, selbst wenn die Menschen wie im Fall der Somalierin, die mir das in verständlichem Schwedisch erklärt, acht Jahre dort gelebt haben.

Wir sehen einen schwer kriegstraumatisierten Afghanen – mehrere Angehörige sind vor seinen Anugen von Taliban ermordet worden – der dringend psychiatrische Betreuung braucht.
Darum kümmern wir uns.

   
         
   

Und junge Somalierinnen in den Zwanzigern, allesamt mit einer besonders brutalen Form der Genitalverstümmelung belastet. Die Folge sind unter anderem erhebliche Menstruationsbeschwerden, Bauchschmerzen und Harnwegsinfekte. Wenn sie nach Somaila deportiert werden, droht ihnen außerdem die Zwangsverheiratung mit meist älteren Männern, die sie nicht kennen und nicht wollen.
Ich kann mir das nur anhören und den Bauch abtasten, dann protokolliere ich das Ergebnis auf einen Durchschreibbogen mit der Empfehlung an den Camp-Arzt, eine Überweisung zum Gynäkologen zu veranlassen (ich selber kann es nicht, weil der Frauenarzt das dann nicht abrechnen kann – mit der Überweisung des Camparztes ginge es). Meine Mitstreiter haben mir gesagt, das hilft manchmal.

Über den Camparzt hört man seltsame Sachen. Mit ihm sprechen können wir nicht, weil man uns nicht hineinlässt. Eine Somalierin berichtet von einer Ärztin, die nur Deutsch mit ihr gesprochen und sie weg geschickt habe (ich weiß von manchen DDR-sozialisierten Ärzten, dass sie kein Englisch können). Wiederum hat die Leiterin der Einrichtung erklärt, dass es nur einen Amtsarzt, d.h. einen Mann, im Camp gäbe. Wer also ist die geheimnisvolle Dame?
Im konkreten Fall hatte ich, wegen Wirbelsäulenbeschwerden nach einem Autounfall, eine unfallchirurgische Untersuchung und erstmal wirksame Schmerzmittel (Paracetamol oder Aspirin bringt da nix) empfohlen – vielleicht sollten wir beim nächsten Besuch wenigstens Schmerzmittel mitbringen. Sonst sind die Bewohner/innen auch hier weiterhin auf das Wohlwollen des Amtsarztes und seiner ominösen Mitarbeiterin angewiesen.

P.s.:
Anstatt genitalverstümmelte Frauen im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste zu schicken, ist es unsere humanitäre Pflicht, uns in besonderem Maße um sie zu kümmern.
Denn dieses Trauma ist keine Einbahnstraße, es gibt einen Weg zurück: Klick hier!

   
    (am Ende des Vortrags)    
    und hier!    
       
   

Bis demnächst!

   
   

 

   
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Letzte Änderung:
31/12/17
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