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"Containertagebuch 52"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
13.10.2017  

Horst (Mecklenburg)

Die mazedonische Familie ist heimgefahren. So wie ich den Großvater verstanden habe, sogar freiwillig. Was halt freiwillig ist, bei einem „sicheren Herkunftsland“ – eine Sicherheit, die es, wie wir gesehen haben, für Roma nicht gibt. Die Mädchen und das Baby hätten vielleicht bleiben können, der erwachsene Bruder und die Großeltern wahrscheinlich nicht – dann wäre die Familie auseinander gerissen. Dabei hat Deutschland nach den Massenmorden der Nazi an Sinti und Roma eine immerwährende Wiedergutmachungspflicht und hätte die Menschen aufnehmen müssen – was die Balkanländer nicht ihrer Pflicht enthebt, die dortigen Roma anständig zu behandeln. Derzeit tun sie das nicht, und müssten durch wirksame Sanktionen dazu gezwungen werden.

Ärztlich habe ich heut nicht viel zu tun, außer Arztbriefe zu „übersetzen“. Die sind ja schon für deutsche Normalverbraucher oft schwer verständlich. Die Leute halten mir ihre Briefe hin und wollen wissen, was das was da steht jetzt für sie zu bedeuten hat. Ich versuche mit meinem Brösel-Russisch oder -Französisch mein Bestes. Im Brief für einen jungen Afrikaner entdecke ich, dass ein HIV-Test gemacht wurde, aber das Ergebnis aussteht. Ich frage ihn, ob ich nachfragen soll, was der „Test pour le SIDA“ ergeben habe, er will es wissen.
So etwas kriegt man normalerweise nicht am Telefon heraus. Aber weil die Durchwahlnummer draufsteht, ich die Personalien und die Archivnummer des Patienten nennen kann und vor allem weil ich mich anscheinend überzeugend als Arzt ausgebe, bekomme ich das Ergebnis: „Nicht reaktiv“, das heißt: kein HIV.
Gut für den Mann, schlechter für seine Bleibechancen – mit einem Attest über eine bestehende und noch nicht behandelte HIV-Erkrankung hätten die Anwälte dem Mann vielleicht helfen können. So wird’s noch schwieriger. Perverses System.

   
         
10.10.2017  

Norderstedt

Nach den zahlreichen Aufnahmen Geflüchteter im letzten Jahr hat die Stadt ihre Notunterkünfte massiv ausgebaut und verschiedene Sozialdienste wie Diakonie, AWO oder Caritas haben dort Beratungsbüros eingerichtet. Meine Mitstreiterin vom Hauptbahnhof Habibeh ist dort eingestiegen, und mit ihr habe ich eine Sprechstunde vor Ort eingerichtet. Dann müssen die Mitarbeiterinnen mit ihren sprachunkundigen Klientinnen und Klienten nicht stundenlang Zeit in Arztwartezimmern verbringen.

Heute hätte eine junge Schwangere, die sich hier vorstellt, ihr Geburtsvorbereitungsgespräch im zuständigen Krankenhaus gehabt. Allein, ihr Mann hat sich kurzfristig nach Süddeutschland abgesetzt, und man kann eine des Deutschen noch kaum Mächtige im 8. Monat schlecht unbegleitet in einen Bus setzen, zumal sie schon den ganzen Tag erbrechen muss.
Ich beschließe, sie hinzufahren – gegen Übelkeit im Auto gibt’s Plastiktüten und Papiertücher. Ohne Zwischenfälle kommen wir in der Klinik an, die ein bissl wackelige junge Frau hängt sich bei mir ein, und so komme ich mit meinen 67 zu meiner ersten Geburtsvorbereitungs-beratung – eigene Kinder waren meiner Frau und mir ja nicht vergönnt.
Womöglich entsteht jetzt im Norderstedter Buschfunk das Gerücht, der Soldan wird Papa …

   
         
16.10.2017  

Hamburg-Wandsbek

Seit einem Jahr unterstütze ich das Flüchtlingshilfeprojekt Alraune mit regelmäßigen Sprechstunden. Ein eigenes Sprechzimmer habe ich nicht, nur eine Liege in der riesigen Aula. Ich muss mir dann jedes Mal mit Stellwänden und Tischen eines basteln, improvisieren bin ich inzwischen gewohnt:

   
         
   
   

 

   
   
   

 

   

 

  In letzter Zeit kamen weniger Patienten – wenn sie alle schon einen Hausarzt hätten, wär’ es ja gut. Muss allerdings immer wieder feststellen, dass dem oft nicht so ist. So komme ich wieder, das nächste Mal am Mittwoch 8.11. von 12 bis 14 Uhr, Walddörferstraße 91, über’m Cafe Tschai.    
       
   

Bis demnächst!

   
   

 

   
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Letzte Änderung:
31/12/17
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