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"Containertagebuch 53"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
Norderstedt,
13.11.2017
 

In den nächsten Tagen beginnt wieder das Winternotprogramm für Obdachlose, nicht nur in Hamburg, sondern seit letztem Jahr auch in Norderstedt. Bis zu zehn Betroffene können sich für einen Schlafplatz, der im Gegensatz zum letzten Jahr auch immer derselbe bleibt, bewerben.
Betroffene gibt es natürlich weitaus mehr.

Hubert hat davon nicht mehr profitieren können. Beim ersten Nachtfrost ist er heute früh in seinem Zelt hinter der Tagesaufenthaltsstätte für Nichtsesshafte (TAS) gestorben. Er war zwar ausreichend mit Schlafsack und warmer Kleidung versorgt, aber sein geschwächter Körper hat’s nicht mehr geschafft. Eine Woche vorher hab ich mit ihm noch gesprochen. Er hatte viel vor, wobei man nicht weiß, was davon Phantasie war und was real. Hubert ist sechsundfünfzig Jahre alt geworden – ich bin elf Jahre älter, aber er sah älter aus als ich. Jetzt konnte ich nur noch seinen Totenschein schreiben.

   
Horst/Mecklenburg,
24.11.2017

 

Es ist zwar ein paar Grad über Null, aber dafür regnet es fast ständig. Wie die Flüchtlinge, von denen viele barfuß in Sandalen im Freien herum laufen, das aushalten, ist mir vollkommen schleierhaft. Sonst konnte man zur Not auch mal eine Beratung im Freien durchführen, zum Beispiel meine Telefonate mit Krankenhäusern, Angehörige von Bewohnern betreffend, aber das ist heute unmöglich. Neben unserem Beratungscontainer, in dem Rechtsberatung stattfindet (was in jedem einzelnen Fall ordentlich Zeit in Anspruch nimmt) hat man uns einen Warteraum aufgesperrt, in dem Kleiderspenden, vor allem für Kinder, ausgegeben werden. Für die Arztberatung habe ich zunächst nur einen mit vier Stockbetten vollgestellten Raum ohne Stühle und ohne funktionierende Heizung, das geht gar nicht.
Nach Verhandlungen mit den Pförtnern bekommen wir einen ebenso möblierten Bettencontainer, in dem es wenigstens warm ist. Wir stellen zwei Stühle vor die Heizung, die Dolmetscherin quetscht sich auf den unteren Teil des nächststehenden Stockbetts.

Der Afghane mit dem entgleisten Blutzucker ist wieder da. Er war schon in Bremen mit Bewusstseinsstörungen bei Werten um 600 (auch bei Diabetikern soll er unter 200 sein) im Krankenhaus, sie haben ihn auf Insulin eingestellt, Tabletten dazu, und natürlich Diät. Nur, bei einer kohlehydratlastigen Gemeinschaftsverpflegung und ständigem Stress kannst Du Diabetesdiät vergessen. Der Mensch müsste in stabile Verhältnisse und in die Lage kommen, seine Ernährung selber zusammenstellen zu können. So, sagt er, „sind meine Werte vor dem Essen um 15 und nachmittags 25 bis 30.“

„Fünfundzwanzig“, sagte meine altenpflege-erfahrene Begleiterin vor zwei Wochen, „das ist doch viel zu niedrig“!
Jetzt muss ich etwas erklären.
Wir haben, auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung, in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Laborwerte. Die DDR hat irgendwann die internationalen SI-Einheiten eingeführt, die z.B. auch Schweden oder Frankreich verwenden, während wir unsere „alten“ beibehalten haben. Die ich andererseits auch in englischsprachigen iranischen oder syrischen Arztbriefen finde (wenigstens standen dort die Normalwerte daneben, aus denen ich das schließen konnte). Ein Riesenchaos also.
Wenn also in Lauenburg 100 einen normalen Nüchternblutzucker und 200 einen erhöhten bedeuten, so wären das ein paar Kilometer weiter in Boizenburg oder Horst 5.5 bzw. 11.0 – 5.5. ist der Umrechnungsfaktor für Zucker, es gibt für jeden Laborwert einen anderen. Für den Nierenwert Kreatinin ist er z.B. 76, aber da ist der ostdeutsche der höhere: 1.0 ist bei uns eine normale Nierenfunktion, was etwa 80 in Ostdeutschland entspräche ­– bei 6 west- bzw. 450 ostdeutsch muss der Mensch wahrscheinlich an die Dialyse. Und so hinterhältig geht das durch das ganze Labor.

Blutzucker = 15 ostdeutsch ist also ca. 250 westdeutsch, also viel zu hoch, und 25 bzw. fast 500 erst recht. Für den Patienten und sein ostdeutsches Messgerät ist das erstmal egal, solang er nicht nach Westdeutschland verlegt wird. Wir sagen ihm nur, dass es zwei unterschiedliche Mess-Systeme gibt.
Jetzt kriegt er erstmal ein Attest, dass er in eine Einrichtung verlegt wird, in der er seine Verpflegung selber organisieren kann, und dann dort zu einem Zucker-Spezialisten (Diabetologen) geschickt wird. Der Rest ist Arbeit für den Anwalt.

Bei meiner Hinfahrt haben sie im Autoradio das Lied „Always Look on the Bright Side of Life“ gebracht, und das geht mir, während ich im Regen zwischen den Containern herumlaufe, wie ein Ohrwurm durch den Kopf, einschließlich der makaberen Schluss-Szene des dazu gehörigen Klamaukfilms „Das Leben des Brian“, in der die Gekreuzigten dieses Lied im Chor singen, mit Kopf und, soweit möglich, mit den Füßen dazu im Takt wippend. Ist jetzt noch nicht ganz die Situation der Geflüchteten im Lager Horst, aber wenn sich dann einer, wie es dort immer wieder passiert, mit oder ohne Umweg über einen „sicheren Drittstaat“ (gemäß der Dublin-Vereinbahrungen), im Kriegsland Afghanistan wieder findet, wird er in einer ähnlichen Lage sein.
Nur gar nicht mehr lustig.

   
         
   

… Bis demnächst!

   
   

 

   
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Letzte Änderung:
31/12/17
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