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"Containertagebuch 54"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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www.containertagebuch.de
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Carlo Jahn aus Hof hat seine Seite „Hoftür“ geschlossen. Vorher war er noch so nett, mir bei der Einrichtung einer eigenen Seite www.containertagebuch.de zu helfen, auf der jetzt alle Containertagebücher zu lesen sind, und die neuen, derzeit noch mit Carlos Hilfe, eingestellt werden. Weiterhin brauchte ich dazu die Hilfe der Firma WebGo, von der auch unser Mini-Forum www.weitblickforum.de betreut wird. Weil ich jedes Mal, wenn ich dort etwas per Email fragte, zwar schnell eine Antwort bekam, sich aus der Antwort aber regelmäßig zwei oder drei neue Fragen ergaben, ich bei der Telefon-Hotline in einer Warte-schleife mit unabsehbarem Ende landete und die Firma in Hamburg residiert, fuhr ich einfach mal hin.

Mehrstöckiges Bürogebäude, kein Klingelschild. Wie also reinkommen?

Es kommt jemand raus, Männer mit Umzugskartons (zum Glück nicht von WebGo), ich rein und mit dem Aufzug hoch.

Klingle an der Bürotür.

„Guten Tag, ich bin Ernst Soldan, Kunde Nr …, ich hätte ein paar Fragen“.

Der junge Mann wundert sich, es sei in allen Jahren, in denen die Firma existiert, noch nie jemand persönlich vorbei gekommen, das sei auch nicht vorgesehen, aber er ist freundlich und hilft mir, die Seite einzurichten, nach einer halben Stunde sind wir fertig.


Schön dass das so gut geklappt hat, weil die Leute nett und offen waren. Und weil die Firma in Hamburg liegt, wo ich mit meiner HVV-Seniorenkarte unkompliziert hinkomme. Denn es ärgert mich schon, dass immer mehr Probleme nur noch online oder mit Hilfe einer Telefon-hotline (in deren Warteschleife man stundenlang festhängt) gelöst werden können, und man immer weni-ger Kontakt zu persönlich ansprechbaren Serviceleuten bekommt. Da muss man schon mal zu ungewöhnlichen Maßnahmen greifen.

   

 


   
Norderstedt,
Dezember 2017
 

Weil die Leute von der Tagesaufenthaltsstätte (TAS) auch mehrere Wochen nach Huberts Erfrierungstod (Containertagebuch Nr. 53 http://www.containertagebuch.de/CTB-53/Soldan-Bericht-53.html) noch nichts von einer Trauerfeier ge-hört haben, rufe ich beim Bestatter an. Resultat: Es gibt keine Trauerfeier. Die ausfindig gemachten Angehörigen haben für seine Bestattung eine Billigvariante gewählt, von der ich noch nicht wusste, dass es sie gibt. Nicht nur keine Trauerfeier, auch keine anonyme Bestattung in einem dafür vorgesehenen Gedächtnishain, sondern die Asche des Verstorbenen wird irgendwo auf der Wiese eines sogenannten „anonymen Grabfelds“ ausgebracht. Immerhin weiß man den Friedhof: Hamburg-Öjendorf.

Will sagen, wenn man durch den Eingang des Öjendorfer Friedhofs kommt, kann sich der, der Hubert kannte, vorstellen: Hier irgendwo innerhalb des Friedhofs ist er, bzw. seine Asche.
Eigentlich wollte ich ja keine Leichenschau-Rechnung schreiben, aber jetzt bin ich so stinkig, dass ich doch eine verfasse, die der Bestatter an die geizigen Angehörigen durchreichen wird.

   
         
Horst/Meckl. 22.12.17/5.1.18

Kind Nr. 867 (s. CTB 51 http://www.containertagebuch.de/CTB-51/Soldan-Bericht-51.html) hat ein Schwesterchen bekommen – die Schwangerschaft hat trotz diverser Zwischenblutungen doch noch ein gutes Ende genommen. Während die Mut-ter das Baby auf dem Arm hat und mich fragt, ob es möglich ist, zwei Wochen nach dem notfallmäßigen Abstillen (warum wird nicht recht klar) nochmal mit dem Stillen anzufangen (ist es nicht), turnt die Große munter auf ihrem Buggy herum und freut sich über die Mandari-nenschnitze, die sie bei einer Lebensmittel- und Kleider-verteilaktion einer Frauengruppe in den Mund gesteckt bekommt. Wo die Familie letztendlich bleiben kann, weiß immer noch niemand.


Eine über 80jährige Afghanin kommt mit ihrer jüngeren Nachbarin mit brennenden Augen in den Container. Der Lagerarzt hat ihr kortison- und antibiotika-haltige Au-gensalbe gegeben, ihr aber nicht verständlich gemacht, wie sie anwenden soll. Ich tropfe ihr die in die Augen und erkläre gleichzeitig über unsere Dolmetscherin der Nachbarin, wie man das macht. Zwei Wochen später ist das Brennen weg, aber gescheit sehen kann sie immer noch nicht – sie braucht, wie sie selber meint, eine Brille, aber die kann sie nicht bezahlen. Neue Schuhe bräuchte sie auch, sie läuft, wie viele andere hier, barfuß mit Flip-flops durch die Kälte.

Nebenher erfahre ich Bruchstücke ihrer tragischen Fluchtgeschichte. Während sie hier in Horst kampiert, ist ihr über neunzigjähriger Mann irgendwo in Griechenland hängen geblieben, und keiner kann herausfinden, wo.
So gehen die letzten Jahre verloren, die sie mit ihm noch zusammen hätte verbringen können.


Kurz vor Mittag windet sich ein großer roter Reisebus durch das Lagertor. Wir überlegen, wozu der kommt. Einer befürchtet Abschiebetransporte, die andern glau-ben das nicht, denn dann wäre die Polizei mit mehreren Einsatzfahrzeugen angerückt, und es steht nur eines da, ohne Blaulicht, parkt einfach. Also Entwarnung.

Der Bus wendet und kommt wieder zum Tor heraus. Das Tor geht zu, der Bus bleibt stehen und orgelt den Platz vor unserem Flüchtlingsratscontainer mit Dieselabgasen voll. Der Fahrer steigt aus, öffnet die Gepäckklappe und gibt dem einzigen mitgekommenen Passagier ein Bün-del. dann fährt er, leer, davon.

Offensichtlich ein neuer Lagerbewohner – willkommen am Arsch der Welt.








Glühweinzeit –
in memoriam
Patrice Lumumba
  Der Kongo, zeitweise Zaire genannt, ist seit Jahrzehnten ein Herkunftsland von Geflüchteten; seit der Unabhän-gigkeit des Landes 1960 von Belgien werden die Men-schen von Kriegen geplagt, die von Mächten gesteuert werden, auf die sie keinen Einfluss haben.

Und jedes Mal, wenn ich auf einem Weihnachtsmarkt oder ähnlichem einen Glühwein trinke, wird dort auch ein Alkohol-Kakao-Mix namens „Lumumba“ angeboten.

Ich hab dieses grauenhafte Gesöff noch nie getrunken, sondern frag jedes Mal, ob die Herrschaften wissen, wer Lumumba war. Nicht was, sondern wer. Kaum einer weiß es, rühmliche Ausnahmen allenfalls bei älteren Herrschaften und häufiger mit DDR-Biographie.

Patrice Lumumba war der erste Präsident des Kongo, er wurde auf Betreiben der CIA Anfang 1961 viehisch ermordet. Ich hab das, damals zehn, als eine der ersten politischen Nachrichten überhaupt mitgekriegt. Und es regt mich jedes Mal auf, dass Lumumba heute in Deutschland nur noch als Mixgetränk bekannt ist, und deshalb muss sich jede Glühweinstandverkäuferin die Geschichte anhören. Die meisten bedanken sich freund-lich.
Kürzlich fragte eine junge Kellnerin nach, woher denn dann der Name für diese Getränk käme.
Ich: Keine Ahnung, vielleicht aufgrund der dunklen Farbe. Sie: „Dann fände ich das aber uncool.“
Uncool finden ist schon mal ein guter Anfang.

Mehr zu Lumumba:
http://www.spiegel.de/einestages/kongo-der-mord-an-patrice-lumumba-1961-a-1074116.html
http://www.spiegel.de/spiegel/kulturspiegel/d-126223295.html
   
   

… Bis demnächst!

   
   

 

   
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Letzte Änderung:
9/1/18
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