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"Containertagebuch 59"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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TAS Norderstedt an einem Septembermittwoch
Ich hab an diesem Tag keine Sprechstunde, bin aber telefonisch ansprechbar. Bekomme einen Hilferuf von dort, es sitzt da einer mit blutendem Auge. Da ich kein Augenarzt bin, sag ich, der soll sofort in die nächste Augenambulanz gehen, die TAS organisiert eine Begleitung, weil der Mann gehbehindert ist und schlecht Deutsch spricht. Die Krankenhäuser in unserer Umgebung kenne ich inzwischen so gut, dass ich mich darauf verlasse, dass sie einen gefährlichen Notfall wie diesen auch dann behandelt, wenn der Betroffene, wie hier, nicht krankenversichert ist.

Donnerstag
Der Mann war dort, wurde auch behandelt, das Auge ist aufgrund einer alten Verletzung dick entzündet. Wenn er nicht bald operiert wird und bis dahin nicht regelmäßig Antibiotika nimmt, droht eine Hirnhautentzündung, die oft tödlich ausgeht. Das entnehme ich dem Arztbrief und der telefonischen Erklärung der Oberärztin. Nur, dass die aus fachlichen Gründen in einem anderen Krankenhaus passieren muss. Bis ich das so weit zusammen habe, ist es Abend und (fast) alles hat zu.

Freitag
Ich muss nach Kiel, Fortbildung. von unterwegs rufe ich in der TAS an und sag denen, sie sollen den Mann, so bald er auftaucht, mit Begleitung in das betrffende Krankenhaus schicken. Auf den Arztbrief sollen sie noch meinen Namen plus Mobilnummer schreiben. Irgendwann am Vormittag kommt er, seine Begleitung (eine regelmäßige TAS-Besucherin) und er bekommen Geld für die HVV-Fahrkarten und ziehen los. Den Verwaltungsmenschen in dem betreffenden Krankenhaus, mit dem ich wegen der Nicht-Krankenversicherung sprechen wollte, habe ich leider rnicht erreicht.
Irgendwann mittags, ich sitze im Vortrag, geht mein Telefon, die Nummer des Krankenhauses wird angezeigt. ich vertröste leise den Anrufer, verlasse den Saal und höre, dass er von der Krankenhausverwaltung ist. Ich erkläre die Sachlage und der Mann sichert zu, dass der Patient auf Risiko des Krankenhauses in der Augenklinik aufgenommen wird.

TAS, nächster Mittwoch
Als ich zu meiner regulären Sprechstunde komme, drückt mir die Leiterin einen Zettel in die Hand, ich möge diese Nnummer anrufen: Es meldet sich eine Sozialarbeiterin des "Entlassungsmanagements" des betreffenden Krankenhauses.
Sie hat für unseren Patienten in der Krankenstube für Obdachlose, d.h. eine Art Kurzzeitpflegestation, im ehemaligen Hafenkrankenhaus auf St. Pauli ein Bett ergattert, wenn er voraussichtlich nächsten Montag nach der Op. entlassen wird. Denn eine Entlassung in die Obdachlosigkeit würde die Wundheilung und damit den Op-Erfolg gefährden, das seh ich auch so. 
Ich kenne die Einrichtung, eine der dortigen Krankenschwestern gehörte zu unserem Medizin-Team beim Papst-Besuch. Allerdings hatte ich die momentan gar nicht auf dem Schirm, weil ich wusste dass es dort eine Warteliste gibt, d.h. ich vermutete, dass dort fast immer ausgebucht ist. Umso erstaunter war ich, dass die Krankenhaus-Sozialarbeiterin das hingekriegt hat. Und das in einem Haus mit privatem Träger.

Irgendwo in Norderstedt
werde ich zu einem Hausbesuch gerufen, Mutter und zwei Kleinkinder haben Fieber und schniefen, sind auch krankenversichert, soweit also keine Herausforderung. Allerdings hab ich mir beim Eintreffen mit zwei Polizisten die Klinke in die Hand gegeben, und die Mutter schnieft nicht nur, weil sie Schnupfen hat.
Sie ist vor ihrem Ex geflüchtet, der im Knast sitzt und sie regelmäßig misshandelt (deshalb sitzt er nicht) und das von ihm Geklaute in der gemeinsamen Wohnung deponiert hat. Deshalb hat sie, in Abwesenheit, ein Gericht wegen Mittäterschaft zu einer Geldstrafe verurteilt, die sie jetzt bezahlen soll, oder 46 Tage "Ersatzfreiheitsstrafe" absitzen. Rechtsmittel sind nicht mehr durchführbar, zumindestens nicht mit den eingeschränkten Möglichkeiten der Frau - übermorgen soll sie einfahren, wenn sie bis dahin nicht zahlt.

Jeder 68er, und ich denke, nicht nur der/die, weiss, dass Justiz nicht unbedingt etwas mit Gerechtigkeit zu tun hat. 
Aber was tun ? Für mich war das ein Deja-vu.
So einen Schrieb hatte ich schon mal in der Hand, Adressat: Ich.
1975 hab ich mit Tausenden anderen in Heidelberg aus Protest gegen Fahrpreiserhöhungen die Straßenbahn blockiert, Folge: Eine Serie von Prozessen, in meinem Fall 1800 DM Geldstrafe wegen "Nötigung" (des Straßenbahnfahrers, der im Prozess nicht gefragt wurde bzw gar nicht geladen war). Die stotterte ich ab, bis ich 1980 für meine Famulatur (medizinisches Praktikum) in Tansania jede Mark brauchte und die Raten stoppte. 
Irgendwann, ich war längst zurück, flatterte mir eine "Ladung zum Antritt einer Restersatzfreiheitsstrafe" ins Haus, 10 Tage sollte ich absitzen. Der Text entbehrte nicht einer gewissen Komik, so hätte ich mit einer Abweisung rechnen müssen, falls ich betrunken oder unter Drogen stehend einrücken sollte, ausserdem wurde genau aufgelistet, was ich mitbringen dürfe (Photos von nahestehenden Personen) und was nicht (z.B. feststehende Messer).
Auf dem Weg zur Uni lief mir meine Kommilitonin und Mitstreiterin Frauke übern Weg. Die meinte: "Das geht ja gar nicht", kopierte den Schrieb und fing an, bei den Kommilitonen zu sammeln. Innerhalb von einer Stunde waren die 200 DM da.

In Erinnerung daran streckte ich der Frau die 460 vor und schickte an die etwa hundert Abonnenten meines "Containertagebuchs" eine Rundmail, indem ich die o.g. Situation beschrieb und die Empfänger, großenteils Freunde und Verwandte, bat, im Rahmen Ihrer Möglichkeiten ein bissl was zu spenden, damit ich das wieder reinbekäme. Nannte meine Kontonummer, bat um eine kleine Überweisung mit dem Kennwort "Calamity Jane" (das war eine Frau aus einem Western, die alles Unglück an sich zog) und einer Kurznachricht über den Betrag. Fast im Minutentakt gingen die Nachrichten ein.
Keine zwei Stunden später stoppte ich die Aktion, weil bereits mehr Geld zusammen war als ich der Frau gegeben hatte. Ich sagte ihr das, wies sie aber darauf hin, dass so eine Aktion nicht nochmal geht und sie dringend einen Anwalt braucht, um den Rest an Problemen die sie in dieser Richtung am Hals hat, zu regeln, und das ist wohl noch einiges.
Kassensturz meinerseits 2 Wochen später auf der Bank (die Prozedur des Internetbanking beherrsche ich nicht):
Insgesamt sind bei dieser Aktion genau 800 € reingekommen ! Ganz herzlichen Dank an alle Spenderinnen und Spender !
Das überschüssige Geld werde ich für die Versorgung von nicht versicherten Obdachlosen oder Geflüchteten verwenden, z.B. falls mal dringens Medikamente gekauft werden müssen. Demnächst kommt zB ein insulinpflichtiger Diabetiker ins Kirchenasyl, da werden die 350 € incl. schnell aufgebraucht sein.

   
   

… Bis demnächst!

   
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Letzte Änderung:
09/05/19
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