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  "Containertagebuch 61"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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    Deutschland ist immer noch geteilt ...
... jedenfalls wenn es um Laborwerte geht.

Wir haben, auch 27 Jahre nach der Wiedervereinigung, in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Laborwerte. Die DDR hat irgendwann die internationalen SI-Einheiten (SI für Systé me international d’unités) eingeführt, die z.B. auch die skandinavischen Länder oder Frankreich verwenden, während wir Westdeutschen - als treue Vasallen der USA, die auch nicht mitmachten - unsere „alten“ beibehalten haben. Die ich andererseits auch in englischsprachigen iranischen oder syrischen Arztbriefen finde (wenigstens standen dort die Normalwerte daneben, aus denen ich das schließen konnte). Ein Riesenchaos also. Eigentlich müssten wir Westdeutschen uns umstellen, aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier ... Und unter "Gramm pro Deziliter" kann ich mir auch als Normalverbraucher etwas vorstellen, während "Millimol"(mmol) eher im Reich der Diplomchemiker angesiedelt zu sein scheint - nichts für jemanden, der seine Chemieklausur mit Ach und Krach im 3. Anlauf geschafft hat.

   
   

Wenn also in Lauenburg 100 g/dl einen normalen Nüchternblutzucker und 200 einen erhöhten bedeuten, so wären das ein paar Kilometer weiter in Boizenburg oder Horst 5.5 bzw. 11.0 mmol/l – 18 ist der Umrechnungsfaktor für Zucker, es gibt für jeden Laborwert einen anderen. Für den Nierenwert Kreatinin ist er z.B. 76, da ist der ostdeutsche der höhere: 1.0 ist bei uns eine normale Nierenfunktion, was etwa 80 in Ostdeutschland entspräche – bei 6 west- bzw. 500 ostdeutsch muss der Mensch wahrscheinlich an die Dialyse ("künstliche Niere"). Und so hinterhältig geht das durch das ganze Labor. Meistens erkennt man ja an einer Zahl jenseits des eigenen medizinischen Vorstellungsvermögens, dass das jetzt "die andere" Einheit sein muss - aber beim Blutfarbstoff Hämoglobin (Hb) bin ich trotzdem schon reingefallen. Das Hb ist der Sauerstoffträger der roten Blutkörperchen und sinkt z.B. nach Blutverlust. Bei uns in Westdeutschland ist er bei 12-16 Gramm pro Deziliter (g/dl) normal, bei 9-10 g/dl wird klar, dass etwas nicht stimmt, und bei 7-8 überlegt man sich eine Fremdblutspende oder ähnliches.
Zu mir kam einmal ein Mann nach einer komplizierten Operation in die Praxis, zu der er extra nach Berlin gefahren war. Im Entlassbrief fand ich einen Hämogobinwert von 6 und wurde stutzig.
Rief an im Krankenhaus und fragte, wieso man den Patienten mit einem Hb von 6 entlassen hätte, das sei doch viel zu niedrig.

Der Berliner lachte.

"Herr Kollege, wir sind sind hier in der Charité ! Hier gelten SI-Einheiten. 6 Millimol pro Liter wären bei Ihnen etwa 10 Gramm pro Deziliter, dass ist nach einer so schweren Op. doch ganz manierlich."

Natürlich hatte er Recht.

   
   

Praktische Auswirkungen hat diese Laborrechnerei in meinem Fall bei der Betreuung von mittlerweile zwei Zuckerkranken im Kirchenasyl. In Mecklenburger Krankenhäusern sind sie, so gut es ging, auf ihren Diabetes eingestellt worden, mal mit Insulin, mal mit Tabletten, und man hat ihnen Blutzuckermessgeräte samt Teststreifen mitgegeben, natürlich mit Millimol/Liter, d.h. "ostdeutschen" Einheiten. Was dann ihre Betreuer im - westdeutschen - Kirchenasyl durcheinander bringt. Ich erkläre diesen Leuten - Flüchtlinge wie Betreuer sind im Regelfall ja medizinische Laien - dass sie sich das wie zwei unterschiedliche Währungen vorstellen müssen, die man umrechnen muss, etwa wie Euro und türkische Lira oder norwegische Kronen.

   
   

Kirchenasyl

Das Kirchenasyl hat in Deutschland eine lange Tradition. Wenn jemand in einer Kirchengemeinde aufgenommen ist, lässt die Polizei ihn oder sie in Ruhe, meistens jedenfalls. Allerdings müssen die dort Untergebrachten inzwischen bis zu 18 Monate dort ausharren, was sie und die aufnehmende Gemeinde vor eine harte Geduldsprobe stellt. Mehr dazu:
https://www.kirchenasyl.de/erstinformation/
Zumindestens in Hamburg und Schleswig-Holstein können Kinder aus dem Kirchenasyl in die Schule gehen, ohne dass sie die Polizei in Abschiebehaft nimmt. Ansonsten ist die Bewegungsfreiheit der dort Untergebrachten im Wesentlichen auf das Kirchengelände beschränkt. Trotzdem gibt es verstärkt Angriffe auf diese Institution, insbesondere durch Politiker aus sich christlich nennenden Parteien.
   
   

Der schleswig-holsteinische Innenminister, früher ein gar nicht so schlechter Oberbürgermeister von Norderstedt (das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen CDU'ler gewählt hatte, wobei es keinen Gegenkandidaten gab) und auch als Minister bisher etwas humaner als seine Kollegen in anderen Bundesländern, hat sich letztens einen Ausrutscher geleistet und die zunehmenden Kirchenasyle kritisiert. Das seien doch oft Menschen, deren Asylverfahren in anderen Länder schon liefe oder gelaufen sei (sogenannte "Dublin-Fälle").
Und genau das ist der Punkt.
Norwegen, wo eine rechtsradikale Partei ("Fortschrittspartei") mitregiert oder Dänemark, wo sich die Regierung durch einen solchen Hetzverein tolerieren lässt, schiebt gnadenlos afghanische Familien mit Kindern in dieses Land ab, in dem die Menschenrechte Makulatur sind. Schweden ist auch nicht besser. Und in vielen südeuropäischen Ländern werden Geflüchtete einfach sich selbst überlassen, ohne jede Versorgung.

   
   

Das alles führt dazu, dass vermehrt z.B. Afghanen von Schweden oder Norwegen hierher flüchten. Deutschland deportiert zwar noch keine Frauen und Kinder direkt nach Afghanistan, aber nach Schweden und Norwegen durchaus, was dann auf das gleiche hinausläuft. Das erklärt die zunehmende Zahl von Aufnahmen der Geflüchteten ins Kirchenasyl, und an dieser humanitären Pflicht gibt es absolut nichts zu kritisieren. Während des Kirchenasyls sind die Flüchtlinge auf die volle Versorgung durch die Gemeinde angewiesen, betreffend Wohnraum, Lebensmittel und medizinische Versorgung incl. Medikamente für mindestens sechs und maximal achtzehn Monate eine erhebliche Belastung.
Was die Medizin betrifft, da kann ich etwas unterstützen, auch mithilfe meines durch Jahrzehnte gewachsenes Netz an Facharztpraxen und einem Labor. Anruf genügt meistens.
Denen allen an dieser Stelle einen ganz herzlichen Dank !


   
   

Der alltägliche Rassismus im Speisewagen

Manchmal ist man ja auch unterwegs und weiter weg. Aber auch da lässt einen das Thema nicht wirklich los.
Ich sitze also im ICE und nuckele an meinem Bier. Da fragt ein älterer Afro-Amerikaner, ob an meinem Tisch noch frei sei - natürlich - und nimmt Platz. Nach einem kurzen Smalltalk bricht es aus ihm heraus: er sei aus den USA ja einiges gewöhnt, aber dass es solchen Rassismus auch in Deutschland gäbe, habe er bis jetzt nicht gewusst.

Was war passiert ?

Er hatte vor mir an einem anderen Tisch gefragt, ob frei sei, und die Frau hätte "Nein" gesagt, um kurz darauf einem weissen Deutschen, der die gleiche Frage gestellt hätte, den Platz einzuräumen. Als unmittelbar danach der Speisewagenkellner kommt, um die Bestellung des Amerikaners aufzunehmen, kann ich nicht an mich halten und beschreibe dem Mann, was sein Gast eben erleben musste, und füge, für meine Verhältnisse in gemäßigtem Ton, an, dass ich das nicht in Ordnung finde. Wobei ich schon so spreche, dass es der halbe Speisewagen mitkriegt, und natürlich auch die Frau, die es betrifft - ihr Gesicht kann ich leider nicht sehen, weil sie direkt hinter mir sitzt.

   
   

Wir bekommen unsere Getränke gebracht und ich die Rechnung. Zu dem Amerikaner sagt der Kellner: "Ihr Getränk bezahlt die Deutsche Bahn, weil Sie schwarz sind", und bittet mich, das zu übersetzen. Ich schiebe noch eine Entschuldigung der Deutschen Bahn nach, in der Hoffnung, dass mir der Bahnvorstand diese Amtsanmaßung verzeiht.

Und wenn nicht, ist es mir wurscht.

   
   

… Bis demnächst!

   
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Letzte Änderung:
24/01/19
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