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  "Containertagebuch 62"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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    Donnerstagabend

Auf meinem Mobiltelefon erscheint eine Nachricht von der Flüchtlingsfrau S. aus Horst, der ich irgendwann mal meine Nummer gegeben habe. Sie macht sich Sorgen um eine Mitbewohnerin, die in einer tiefen Depression feststeckt, und der medizinische Dienst im Lager macht nichts. So weit ist das ja nichts Neues, vor allem seit kein regelmäßiger Arzt-Dienst mehr vor Ort. Normalerweise hätte ich morgen etwas anstoßen können, bei meinem Horst-Besuch mit dem Hamburger Flüchtlingsrat, allein ich hab eine Reise nach Stuttgart geplant und werde nicht dabei sein. Alarmiere also eine Mitstreiterin, die sich kümmern will. Notfalls wird sie mit der Bewohnerin zur Einlasskontrolle gehen (wir vom Flüchtlingsrat dürfen ja nicht ins Lager) und den Sicherheitsdienst auf die Frau aufmerksam machen, auch dass möglicherweise das Risiko eines Suizids besteht - bekanntlich ist das der GAU bei jeder Depression.

   
    Freitag Mittag

Bereits im Zug, werde ich von S. und meiner Mitstreiterin über den Fortgang der Bemühungen informiert. Tatsächlich haben sie dem Sicherheitsdienst die Sache so drastisch geschildert, dass kurz darauf ein Krankenwagen, gefolgt von einem Notarzt, ins Lager kommt. Der allerdings nach längerer Zeit wieder ohne die Patientin abfährt. Wir erfahren, dass sie nicht mitwollte, und der Notarzt es nicht für so gravierend hielt, dass er sie gegen ihren Willen mitgenommen hätte. Das kann man so sehen, zumal ich ja nicht dabei war. Aus gutem Grund sind die Hürden, jemand gegen seinen Willen in ein psychiatrisches (das wäre es ja dann) Krankenhaus zu bringen, sehr hoch, egal ob für Einheimische oder Ausländer. Allerdings erfahre ich bei der Gelegenheit, dass die Betroffene nachts schreit und Gegenstände aus dem Fenster wirft, überdies seit Tagen nichts mehr gegessen hat - das spricht eher für Psychose und gegen Depression. Allein, ich bin ja kein Psychiater.

   
    Freitagabend

Neue Nachricht von S.: Ihre Bekannte wurde jetzt doch ins Krankenhaus gebracht, "by force". Wir werden in Kontakt bleiben. In diesem Fall denke ich, soweit aus der Ferne beurteilbar, dass die Betreuer in Horst korrekt gehandelt haben. Allerdings erst auf unseren Druck hin, ähnlich wie damals bei dem schwangeren Mädchen aus Mazedonien (siehe Containertagebuch nr.50). Und wir wissen vor allem nicht, was diese Psychose (die es wohl ist) ausgelöst hat, die Umstände, die die Frau zur Flucht gezwungen haben, die schwierigen Verhältnisse in Horst, die quälende Unsicherheit über Bleiben oder Abschiebung, oder alles zusammen.

   
    Sonntagabend, Bahnhof Hamburg-Ochsenzoll

Ich komme aus Stuttgart zurück und will zum Bus. Da stolpere ich über eine Matratze, auf der ein Mann sitzt. Neben ihm ein paar Bierflaschen, ein Aschenbecher, eine Sammelbüchse und ein gestopft voller Einkaufswagen mit seinen Habseligkeiten. Er spricht mich an, er wolle kein Geld, ich möchte ihm nur eine Schachtel Zigaretten aus dem angrenzenden Laden kaufen, weil er so schlecht aufstehen könne. Geld habe er, und hält mir eine Handvoll Münzen hin.
Ich frag, welche Marke: "Das wissen die schon. Die für sechs Euro."

Ich lass ihm sein Geld und geh in den Laden, frage nach einer Schachtel Zigaretten für den Herrn auf der Matratze. Die wissen sofort Bescheid und geben mir das Gewünschte. Der Mann bedankt sich, und ich frag ihn, warum er hier unter freiem Himmel nächtigt, ohne überdachung.
"Heut Nacht regnet es nicht", der Himmel ist klar, wahrscheinlich hat er Recht. Auch trägt er warme Sachen und hat neben sich einen Schlafsack liegen. Wir überlegen, was er noch brauchen könne, vielleicht einen Rollator, allein wie soll er dann seinen Einkaufswagen schieben ?
Mein Bus kommt, ich mach mir noch Gedanken.

Die nächsten Tage bin ich beschäftigt, weil eine meiner Praxiskolleginnen Urlaub hat und ich sie vertrete.
Als ich wieder komme, ist der Mann nicht mehr da. Der Verkäufer im Laden meint, vorgestern sei er noch da gewesen, gestern habe er frei gehabt, und heut sei er weg.
"Wahrscheinlich haben sie ihn abgeholt".
Wer, und wohin ??

PS
Inzwischen habe ich erfahren, dass ihn ein Krankenwagen abgeholt und wohl in eine Klinik gebracht hat. Seine Habseligkeiten lagen noch eine Weile herum und sind jetzt weg, wahrscheinlich "entsorgt". Ich ärgere mich, dass ich ihn nicht zumindestens nach seinem Namen gefragt habe, und deshalb jetzt vollkommen im Dunkeln tappe.

   
   

… Bis demnächst!

   
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Letzte Änderung:
11/03/19
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