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  "Containertagebuch 64"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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In der hiesigen Zeitung steht eine Kurzmeldung, wonach ein betrunkener Obdachloser sich am Rand eines U-Bahnhofes zum Schlafen auf die Gleise gelegt habe und nur aufgrund des beherzten Zugriffs von Passanten davor bewahrt werden konnte, überfahren zu werden - die sich dabei selber in Lebensgefahr brachten.

Einige Tage später kommt eine Flüchtlingsfrau in meine alte Praxis, in der ich stundenweise noch tätig bin. Zeitgleich hat sich ein Obdachloser eingefunden, dem ich eine Blutuntersuchung empfohlen hatte. Die Wartezeit überbrückt er, indem er quer über drei Wartezimmerstühle liegend laut schnarchend seinen Rausch ausschläft. Immerhin lässt er sich von mir wecken und Blut abnehmen, eine weitere Untersuchung will er nicht - "muss arbeiten", was immer das heisst - und wackelt aus der Praxis. Dabei läuft er der Frau über den Weg, und die erschrickt.
Erkennt sie doch in dem Mann den "U-Bahn-Schläfer", den sie entdeckt und gerade noch gerettet hat. Jetzt hat sie Angst, dass er ihr folgt und irgendetwas von ihr möchte, was sie nicht will. Er wäre nicht der Erste.

Eine Nachfrage von mir in der TAS, wo der Mann bekannt ist, ergibt, dass er sich weder an seine Retterin noch überhaupt an das Ereignis erinnert. Damit kann ich die Frau beruhigen - die Begegnung in der Praxis war Zufall.

   
    Horst/Mecklenburg 24.5.19

Auf dem langen Weg von Afghanistan hierher hat sich der junge Mann nach mehreren Unfällen sein Knie verschlissen. Bereits in Griechenland haben sie ihm eine Teilprothese eingesetzt, allein ohne vernünftige Krankengymnastik war es unmöglich, wieder vernünftig gehen zu lernen und leidlich schmerzfrei zu leben. Inzwischen haben sie ihm hier eine Totalendoprothese ("künstliches Knie") verpasst.
Von vielen Behandlungen solcher Patient/inn/en (ich war zwei Jahre Stationsarzt in einer orthopädischen Rehaklinik) weiss ich, dass es nicht reicht, jemand ein neues Gelenk in Knie oder Hüfte zu klopfen, sondern es muss die in den Jahren davor verkümmerte Muskulatur wieder auftrainiert werden durch eine monatelange krankengymnastische Übungsbehandlung. Die hat ein hiesiger Orthopäde sogar veranlasst und ihm Termine in einer Krankengymnastik-Praxis besorgt.
Allein, wie kommt er da hin ?
Mit schmerzendem Knie an zwei Unterarmgehstützen hat er eine Gehstrecke von vielleicht 50 Metern. Bis zur Bushaltestelle schafft er es so nicht, ausserdem fährt der Bus nur viermal am Tag und in den Schulferien gar nicht.
Auch wenn der Arzt die Behandlung als Hausbesuch verordnet haette, waer das keine Lösung. Denn allein für An- und Rueckfahrt wuerde der Therapeut eine Stunde brauchen - dafuer kriegt er meines Wissens knapp 6 Euro extra. Macht er das öfter, ist er im Handumdrehen pleite.
Das heisst wieder mal: Horst ist zumindestens für solche Menschen die falsche Unterkunft.


     
   

Norderstedt, Juni 2019

Die alte Dame hat sich fast ein Jahr gequält, nach mehreren Schlaganfällen. Anfangs sprach sie etwa so viel Deutsch wie ich Türkisch, was zu einer Basiskommunikation ausreichte. Schließlich verweigert sie Essen und Trinken, kann nicht mehr sprechen, nur noch ja und nein signalisieren - auf meine Frage "hastaneye istiyorsunuz?" - möchten Sie ins Krankenhaus - signalisiert sie "nein". Ein paar Tage später geht auch das nicht mehr. Die Familie pflegt sie liebevoll, aber alle wissen, dass die letzte Reise bevorsteht. Schließlich bekomme ich den Anruf, dass sie eingeschlafen ist. Als ich zu ihr ins Zimmer komme, liegt auf ihrem Bett ein großes Messer, in eine Serviette eingewickelt. Ich, irritiert, frage, was das für eine Bedeutung hat. Das sei "gegen die Bauchgase". Ich nehme das für bare Münze und erkläre - aufgrund meiner Erfahrung aus vielen Leichenschauen, auch bei Verstorbenen, die schon länger liegen - in den ersten 24 Stunden, d.h. länger als sie noch im Haus ist, würde es noch keine "Bauchgase" geben. Daraufhin nehmen sie das Messer weg, ich mache die notwendigen Untersuchungen und schreibe den Totenschein. Beantworte die noch offenen Fragen, wünsche den Anwesenden "Basininiz saholsun", sinngemäß für "Herzliches Beileid", und fahre heim. Am nächsten Tag kommt ein Angehöriger in die Praxis, und ich frage ihn nochmal nach dem Sinn des Messers. Er weiß es auch nicht genau, habe es nur schon öfter bei verstorbenen Landsleuten gesehen. Das Ganze sei ein Ritual, das Messer käme nicht zum Einsatz (was mich schon mal beruhigt). Auf einer Islamseite finde ich einiges zum Thema Umgang mit Verstorbenen. Dort steht, dass es in einigen Regionen üblich sei, den Verstorbenen ein Messer oder einen anderen Gegenstand aus Metall auf den Bauch zu legen, damit es nicht zu einer Gasentwicklung kommt. Welche Vorstellung dahinter steckt - auch scheinbar unsinnige Bräuche haben ja oft einen realen Sinn - habe ich noch nicht herausbekommen.

   
   

… Ich wünsche Euch allen einen schönen Sommer!

   
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Letzte Änderung:
01/07/19
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