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  "Containertagebuch 68"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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Norderstedt, Februar 2020

Zwischen Obdachlosigkeit und "Behaustheit" gibt es fließende Unterschiede. Und in unserer TAS ("Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose") wird danach nicht gefragt, sondern es sind alle willkommen. "Richtig" Obdachlose, die draußen schlafen, manche sogar im Winter, andere, die ein Bett im Winternotprogramm haben, solche mit Zimmerchen in einer der Notwohnungen, oder solche die über eine kleine Wohnung, aber auch nur über eine kleine Rente verfügen.
 
Die alle treffen sich in der TAS (mehr dazu: diakonie-hhsh.de/tas-norderstedt/), trinken Wasser, Kaffee usw. (Alkohol ist nicht erlaubt), können duschen oder Kleidung wechseln, haben eine Postadresse, können sich sozial beraten lassen und kriegen Frühstück und Mittagessen. Letzteres darf auch ich während meiner Arztsprechstunden zweimal im Monat genießen. Es kommt schon mal vor, dass ich nicht als Arzt erkannt werde: "Oh, Du bist ein Doktor. Ich dachte, Du wärst einer von uns ..." Auch Obdachlosigkeit sieht man einem Menschen nicht unbedingt an.
 
Viele Betroffene haben ihr Heim und ihre soziale Sicherheit durch Schicksalsschläge verloren, Tod der Partnerin, Scheidung, Verlust des Arbeitsplatzes usw. Abhängigkeiten v.a. von Alkohol sind dann oft die Folge. Der Gesundheitszustand der Menschen ist dann oft wesentlich schlechter als der von gleichaltrigen "Normalen", und ein Sterbealter von unter 60 Jahren ist nicht selten. Ich bin jetzt knapp siebzig - die meisten, von deren Tod ich persönlich, aus "Hinz und Kunzt" oder sonstigen Medien erfahre, sind nicht so alt geworden. In der TAS erfährt man oft nur durch Gerüchte, dass wieder einer gestorben ist, manchmal taucht einer auch wieder auch, das sind die glücklicheren (und leider die selteneren) Fälle. Ansonsten hat die TAS-Betreuerin vielleicht in Erfahrung gebracht, dass jemand gestorben ist, aber nicht wie, wo und ob es ein Grab gibt. Dieser Tage wurde ich gebeten, in einem solchen Fall nachzuforschen. Ich kann bei der Rettungsleitstelle nachfragen oder beim Bestatter (in Norderstedt haben wir nur drei, in Hamburg würde das schwieriger). Und beim ersten werde ich auch schon fündig.
 
Offensichtlich ist der Mann von seiner nur noch eingeschränkt handlungsfähigen Mutter tot aufgefunden worden. Der Rettungsdienst konnte ihm auch nicht mehr helfen, so kam der Bestatter. Immerhin passierte das nur einige Stunden nach dem Tod des Betroffenen - ich habe schon erlebt, dass jemand tot vor dem laufenden Fernseher saß, und die aufgeschlagene Zeitung zeigte das Datum von vor 14 Tagen. Jetzt gibt es einen Konflikt zwischen dem Amt und der anscheinend hilflosen und zahlungsunfähigen Mutter, wer die Beerdigung zahlt. Und bis das nicht geklärt ist, bleibt der Verstorbene beim Bestatter "in der Kühlung". Immerhin wissen wir jetzt, wo er ist, und die Bekannten in der TAS können benachrichtigt werden, wann die Beerdigung stattfindet. Es kam schon vor, dass niemand etwas erfuhr, und die Asche eines Verstorbenen auf einem anonymen Grabfeld verstreut wurde. Das wird hier so nicht passieren.
 
P.S. Norderstedt 2.3.2020 - Anruf vom Bestatter: Die Modalitäten sind geklärt, die Bestattung wird demnächst stattfinden, und die Angehörigen inclusive TAS bekommen Nachricht.


 
   

Flüchtlings-Erstaufnahme Nostorf-Horst/Mecklenburg, 23.2.2020
 
Ich war eine Weile nicht mehr hier, da dem Flüchtlingsrat Hamburg inzwischen der Zugang auch zum Außenbereich des Lagers verweigert wird (einschließlich Toilette, siehe letztes Tagebuch). Anlässlich einer Mahnwache von "Pro Bleiberecht" haben wir uns doch mal wieder vor dem Lager getroffen. Es herrscht trotz Nieselregens ein reges Treiben vor den Infozelten, es gibt Kaffee, Kuchen und heiße Suppe. Gesammelte Hilfsmittel werden verteilt, untermalt von lauter kurdischer Musik. Nebenher erfahren wir, dass länger kein Arzt mehr hier war, und die Krankenschwester vor Ort kriegt anscheinend nichts geregelt, oder sie darf es nicht. Jedenfalls spricht uns eine Frau an, sie habe schwere Depressionen und in den drei Wochen, in denen sie hier ist, keine Medikamente bekommen. Kann die Medikamentennamen auch benennen. Mein Psychiatrie-erfahrener Kollege setzt ein Attest auf, wonach die Frau dringend einem Psychiater vorgestellt werden muss und zeitnah Medikamente braucht. Ein bisschen was hab ich im Kofferraum, wir einigen uns nach einem längeren Gespräch darauf, ihr eine Wochendosis da zu lassen, nachdem wir die möglichen Komplikationen abgeklärt haben.
 
Dieses Lager ist eine Katastrophe - es wird Zeit, dass die Landesregierung es schließt. Woanders ist aktuell genug Platz.


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Letzte Änderung:
02/03/20
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