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"Containertagebuch 69"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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    Das Lager, oder, offiziell, die "Erstaufnahmeeinrichtung" Nostorf-Horst

Wer bis 1982 von Hamburg nach Berlin oder auf dem umgekehrten Weg unterwegs war, wird sich an den DDR-Grenzübergang Horst (auf der Westseite: Lauenburg) erinnern; danach lief der Berlin-Verkehr über die neu gebaute Autobahn A 24 und den Übergang Zarrentin-Gudow. Unweit des ehemaligen Übergangs an der B5 (zu DDR-Zeiten "Fernstraße 5"), von dem man nichts mehr sieht ausser dem Hinweis auf die Landesgrenze und einer Gedenktafel, liegt im Wald versteckt eine ehemalige Kaserne der DDR-Grenztruppen, die man mit vielen Containern zu einem Flüchtlings-Aufnahmelager plus Aussenstelle der BAMF ("Bundesamt für Migration und Flüchtlinge") erweitert hat (Bilder hier: http://containertagebuch.de/CTB-46/Soldan-Bericht-46.html). Die Busverbindung nach Boizenburg ist spärlich, vor allem am Wochenende, und ins näher gelegene Lauenburg noch spärlicher. Außerdem ist den in Mecklenburg-Vorpommern registrierten Geflüchteten (und das sind inzwischen alle Lagerbewohner) nur der "Aufenthalt im Kreis Ludwigslust-Parchim plus Landeshauptstadt Schwerin" gestattet, Ausnahme: Lauenburg - aber nicht weiter, z.B. nach Hamburg, wo viele der Geflüchteten ihre Helfer/innen haben.
Früher bin ich regelmäßig mit dem Flüchtlingsrat Hamburg in Horst gewesen, wo man uns, zusammen mit dem Flüchtlingsrat Mecklenburg-Vorpommern, im Außenbereich des Lagers einen Beratungscontainer zugewiesen hatte. Nachdem Hamburg beschlossen hatte, keine Geflüchteten mehr nach Horst einzuweisen (was wir begrüßen, denn das Lager ist furchtbar), nahm die Lagerleitung das zum Vorwand, allen Mitarbeiter/innen des Flüchtlingsrats Hamburg (und denen die sie dafür hielt) auch den Zutritt zum Lager-Außenbereich zu verbieten, zuletzt durften wir nicht mal mehr in den Beratungscontainer oder auf die Toilette nebenan (siehe Tagebuch Nr. 66).
Die Corona-Krise wurde dann zum Anlass genommen, den Außenbereich für "Besucher" ganz zu sperren.
 
Soweit ich weiß, besteht aktuell der einzige regelmäßige öffentliche Außenkontakt von Flüchtlingshelfer/innen anlässlich der monatlich stattfindenden Mahnwachen von "Pro Bleiberecht", daneben gibt es Einzelberatungen des Flüchtlingsrats Mecklenburg-Vorpommern. Während der Mahnwachen werden Kleider- und Spielzeugspenden ausgegeben sowie Getränke (vor Corona gab's auch Suppe, das ist jetzt aus seuchenschutzrechtlichen Gründen verboten), und es wird im Rahmen der Möglichkeiten beraten. Dazu werden Stellzelte aufgebaut, es gibt einen Eingangsbereich, wo sich seit Corona alle registrieren lassen müssen. Dann zerstreut man sich, sucht nach Bekannten, es ergeben sich Beratungsgespräche, manche suchen sich Kleidung oder Schuhe aus, und die Kinder Spielzeug - teilweise hausen Familien mit Kindern dort schon seit Monaten. Es spielt Musik aus den Herkunftsländern der Geflüchteten, dazu gibt's ein Kinderprogramm - die Verständigung mit den Kindern beim Spielen ist das kleinste Problem, irgendwie geht's immer. Sollte, was selten vorkommt, einmal eine ärztliche Untersuchung gewünscht sein, ziehen wir uns in ein Wohnmobil der Helfer/innen zurück.
 

Horst, 27.9.2020, nachmittags

Ich bin eben an der Mahnwache angekommen. Das Lagertor steht offen, im Gegensatz zu sonst, dahinter parkt ein Streifenwagen der Polizei. Da kommt ein Mann aus dem Lager gelaufen, er trägt ein Kind auf den Arm und ruft um Hilfe. Wir bringen die Beiden hinter die Stellzelte und lassen den Mann erstmal runterkommen. Das Kind erweckt oberflächlich den Eindruck, es sei gar nichts Schlimmes passiert, und lässt sich unkompliziert in die Spielgruppe integrieren.
Der Mann berichtet, er sei mit seinem Kind vor dem Wochenende zu Angehörigen gefahren und habe davor den Sicherheitsdienst gebeten, sein Zimmer abzusperren (einen eigenen Schlüssel haben die Bewohner/innen nicht). Eben, am Sonntagmittag, seien sie zurückgekommen und hätten sich aufsperren lassen. Das Zimmer war vollkommen durchwühlt - ob etwas fehlte, ließ sich auf die Schnelle nicht feststellen. Der Mann war natürlich empört und beschwerte sich beim Sicherheitsdienst. Dazu filmte er das verwüstete Zimmer mit seinem Smartphone. Irgendwann kam die Polizei, das Kind wurde aus dem Zimmer geschickt, und die Polizei wollte als erstes das Smartphone haben. Das gab er nicht her, daraufhin drückten ihn die Polizisten auf sein Bett und nahmen ihm das Gerät mit Gewalt weg. Wollten die PIN wissen, das verweigerte er, und sprang während der folgenden Auseinandersetzung aus dem offenen Fenster (zum Glück ebenerdig). Schnappte sich sein Kind und rannte aus dem Lager zu uns. Verfolgt wurde er nicht, das Polizeiauto fährt kurz darauf ab. Derart befremdliche Übergriffe passieren in Horst immer wieder. Als sich der Mann einigermaßen beruhigt hat, gehen wir zur Eingangskontrolle und fragen nach dem Smartphone. Das habe die Polizei mitgenommen, sagt man uns, und gibt dem Mann einen Zettel, auf dem die Beschlagnahme des Geräts vermerkt ist. Begründung: Er habe sich geweigert, es heraus zu geben ... Immerhin wissen wir jetzt, wo es abgeblieben ist. Ich attestiere dem Mann seine Rötungen und Schwellungen seines von Polizisten gequetschten Arms.
Zwei von uns fahren mit ihm nach Boizenburg und kommen bald wieder: Das Gerät sei wegen des Verdachts einer Straftat einbehalten worden, es würde jetzt erstmal ermittelt. Das Weitere muss wohl ein Anwalt regeln.
Wer hat hier die Straftat begangen? So etwas nennt man Täter-Opfer-Umkehr.
Kleinliche Schikanen, um bei den Menschen den Eindruck zu erwecken, dass man sie hier nicht haben will.
Umso wichtiger, mit Solidaritätsaktionen wie dieser Mahnwache den Betroffenen zu signalisieren, dass sie hier willkommen sind.

Die nächsten Mahnwachen sind am 29. November 14 - 17 Uhr (bzw. im Dezember ausnahmsweise am 13.12.) am Waldrand vor dem Lagereingang

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Letzte Änderung:
27/10/20
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