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"Containertagebuch 71"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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    Im März 2022

Ich hab mal wieder eine neue Baustelle. Ihr könnt Euch denken, dass es sich dabei um Menschen aus der Ukraine handelt, wobei ich gelegentlich auch noch für andere Geflüchtete z.B. im mecklenburgischen Erstaufnahmelager Horst (bei Lauenburg) tätig bin oder in der Tagesaufenthaltsstätte für Nichtsesshafte TAS Norderstedt. Und ganz nebenbei als Teilzeitrentner und da natürlich bezahlt in meiner alten Praxis. Aber angesichts des aktuellen Dramas konnte ich nicht die Füße still halten, als mich ein junger Mann, selbst vor Jahren geflüchtet, seit damals Patient bei uns und jetzt als Helfer tätig, ansprach, ob ich nicht in dem zum Jahresende geschlossenen (weil kaputtgesparten) Krankenhaus Borstel, das jetzt als Erstaufnahme und Durchgangsstation für Ukraine-Geflüchtete dient, hausärztlich tätig werden wolle. In den Tagen, die mir bis zum ersten Einsatz blieben, konnte ich eine junge ukrainische Kollegin, die noch um ihr deutsche Zulassung kämpft, zum Mitmachen gewinnen.

Samstag 19.3.22

Von Norderstedt nach Borstel sind es ca. 25 km, also nicht allzu weit. Es gibt zwar eine Ärztegruppe, die sich kümmert, aber die Kolleginnen und Kollegen sind, so weit ich weiß, auch alle noch anderweitig beschäftig, und der Dienstplan hat Lücken. Was uns vor Ort erwartet, wissen wir nicht. Ich rechne mit einer Atmosphäre ähnlich wie 2015/16 am Hamburger Hauptbahnhof, mit dem Unterschied, dass das Krankenhaus, 1947 als Tuberkulose-Forschungsinstitut eingerichtet, abgelegen im Wald liegt.
Forschungszentrum Borstel bei Wikipedia
Vor dem Krankenhausgebäude steht ein großes Rot-Kreuz-Zelt. Ob vor Ort überhaupt jemand von unserer Ankunft weiß? Nach einiger Suche ist der Einsatzleiter gefunden, und er weiß zumindestens, dass Ärzte kommen. Er erklärt uns, dass die Patientenzimmer im Bettentrakt mit Geflüchteten, oft Familien, im Einzelfall auch mit Hunden oder Katzen, belegt sind. Bei allen Angekommenen wird ein Corona-Schnelltest gemacht, und wer positiv ist - das sind einige - muss in dem zugewiesenen Zimmer bleiben, die zum Glück alle mit Dusche und WC ausgestattet sind. Das betreffende Zimmer wird dann dick mit einem Warnhinweis versehen, und auf dem Übersichtsplan im Dienstzimmer entsprechend gekennzeichnet.

Am Hauptbahnhof hatten wir in einem Container und später im Bieberhaus Sprechstunden abgehalten, das geht hier schlecht, und bei Patientinnen in Isolation gar nicht. Also beschließen meine Kollegin K. und ich, durch alle Zimmer zu gehen, wie bei einer Krankenhausvisite. Erst die offenen, dann die Isolationszimmer. Eine Rot-Kreuz-Helferin, die den organisatorischen Ablauf kennt, kommt mit Klopfen, "dobri djen" guten Tag, K. sagt etwas ähnliches wie Arzt-Visite, ich "mui wratschi" wir Ärzte, gibt's Probleme? "Problem" wird auch im Russischen und Ukrainischen verstanden. Wobei ich gehört diese beiden Sprachen nicht auseinanderhalten kann, nur beim Lesen. Weiß auch nicht, wann K. mit den Leuten Ukrainisch spricht und wann Russisch, beide Muttersprachen sind in Borstel vertreten und K. spricht beides. Mein Brösel-Russisch wird jedenfalls verstanden, nur bei den längeren Antworten, die dann kommen, muss ich passen.

Medizinisch ist das Ganze keine große Herausforderung. Kinder mit Magen-Darm-Infekt, ein paar Erwachsene mit Migräne und alten Wirbelsäulenbeschwerden (die durch die strapaziöse Flucht und die häufig wechselnden Schlafgelegenheiten nicht besser werden). Wir verteilen die wenigen Ibuprofen-Tabletten, viel anderes ist nicht vorrätig. Für jemand, dessen Wirbelsäule schon operiert wurde und jetzt in Frage stand, ob neue Operation nötig ist Ibuprofen 400 natürlich ein Tropfen auf den heißen Stein.
Einige sind erst heute Nacht angekommen und haben nur das Interesse, weiter zu schlafen. Das Problem, das uns im Vorfeld von Kolleginnen und Kollegen beschrieben wurde, nämlich Panikattacken vor allem, wenn ein Flugzeug über uns wegfliegt, und die zum Teil nur medikamentös in den Griff zu bekommen waren, begegnet uns gar nicht. Möglicherweise ist es ein Unterschied, ob man mittags in die strahlende Sonne schaut, oder nachts wenn man nicht schlafen kann, ins Grübeln kommt.
Vor der Visite der "Iso-Zimmer" vermummen wir uns. K. sieht aus wie in einem Hochsicherheitslabor, ich komme mit meinen Stiefeln in diese Ganzkörperverkleidung nicht hinein und begnüge mich mit einem Einmalkittel plus Mütze/Handschuhe/FFP3-Maske. Letztere übrigens nicht nur sicherer, sondern auch wesentlich angenehmer zu tragen als die gängigen FFP2-Masken, deren Gummizüge so unangenehm an den Ohren ziehen.
Große Beschwerden hat niemand der Infizierten - Schnupfen, Husten und Kopfweh. Unsere Nasenspray-Vorräte sind schnell zu Ende. Die asymptomatisch positiv Getesten wollen natürlich wissen, wann sie endlich rauskommen. Dafür gibt's interne Regeln, dreimal pro Woche wird getestet, und wer negativ ist (PCR), darf dann raus. Anfangs weiß ich das nicht und muss erst nachfragen. Der nächste Test ist am Montag, ich frage nach dem russischen Wort für Montag und gehe dann in das betreffende Zimmer zurück: "Ponedelnik test".
Strahlende Gesichter.
Für den nächsten Samstag sollten wir mehr Nasenspray, Hustenbonbons und Schmerztabletten vorrätig haben..

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Letzte Änderung:
22/03/22
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