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  "Containertagebuch 66"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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Norderstedt, November 2019
In Norderstedt Mitte sind in den letzten Monaten zwei aus Polen stammende Obdachlose gestorben. Ich kannte beide, habe Janusz vor zwei Jahren zu einer Krankenhausbehandlung verholfen, was seinen Zustand vorübergehend erheblich verbessert hat. Leider eben nur vorübergehend. Im September wurde er, 47 Jahre alt geworden, tot in seinem Zelt aufgefunden. Sein Bruder, der lang von ihm nichts gehört hatte, hat ihn abgeholt und in Polen beerdigt. Jan hatte vor einem Jahr eine schwere Augeninfektion, die eine Operation mit schwieriger Nachbehandlung notwendig machte, mehr dazu:
Containertagebuch 59
Mit Hilfe engagierter Menschen in diversen Krankenhäusern hat das alles funktioniert, und er erlebte noch ein, zu mindestens was das Auge betraf, gutes Jahr, bevor er vor zwei Wochen in einer Norderstedter Toilette tot aufgefunden wurde. Er war 63 Jahre alt. Und das kurz bevor das Winternotprogramm eröffnet wird (in Norderstedt ab 1.Dezember), wo er einen Platz bekommen hätte.
Hinz und Kunzt: Drei tote Obdachlose
In Hamburg öffnet das Winternotprogramm zum 1.November - diese Umstände unterstreichen, dass es ein Wohnungsnotprogramm für das ganze Jahr mit einer wesentlich höheren Platzzahl geben muss.
Winternotprogramm startet (Siehe hier:)
Jan war der dritte innerhalb weniger Tage im öffentlichen Raum verstorbene Obdachlose aus dem Kreis der Hinz-und-Kunzt-Verkäufer. Es ist zwingend erforderlich, dass die Schlafstellen des Winternotprogramms nicht nur ganzjährig, sondern auch ganztägig geöffnet sind - bisher müssen alle Menschen um 9:30 die Unterkunft verlassen und haben erst abends wieder Zutritt.

   
   

Horst/Mecklenburg Herbst 2019

Es ist ja nicht alles schlechter geworden in Horst. Die meisten Bewohner/innen haben jetzt Bustickets bekommen, und die Busse fahren auch etwas öfter. Oft sind es allerdings Rufbusse, die man spätestens zwei Stunden vor Abfahrt bestellen muss, und ich frage mich, wie das mit rudimentären Deutschkenntnissen geht - schließlich gibt es im Lager keine Deutschkurse, auch keinen Schulunterricht für die Kinder.

Ansonsten regiert der übliche Wahnsinn. Ein Bewohner, schon etwas angetrunken, hat sich von seinem Zimmernachbarn fünf Euro geliehen, um sich noch etwas zu trinken zu holen. Er verschwindet, für die Temperaturen Ende Oktober unzureichend gekleidet und taucht tagelang nicht wieder auf. Es kommt ein Gerücht auf, er sei tot, läge erfroren im Wald. Die Polizei erscheint beim Mitbewohner und lässt sich für einen DNA-Abgleich Haar- und Zahnbürste des Vermissten geben. Am 15.11. sind wir vor Ort, auch um zu erfahren was da jetzt Sache ist. Der Mitbewohner berichtet, derweil fahren zwei Polizeibusse und ein Streifenwagen auf, um - nach unseren Informationen - im Lager nach dem Verschwundenen zu suchen. Später gibt es eine Pressemeldung darüber. Irgendwann später taucht der Gesuchte tatsächlich wieder wohlbehalten auf, was in der Zwischenzeit passiert ist, bleibt im Dunkeln. Die Geheimhaltungstaktik von Landesamt und Lagerleitung trägt in solchen Fällen eindeutig zur Gerüchtebildung und Verunsicherung aller Betroffenen bei.

Weiterhin sind Ärzte nur sporadisch von Ort. So werden notwendig gewordene fachärztliche Untersuchungen immer wieder verschleppt. Letzte Woche stellte mir ein Bewohner eine junge Frau mit Epilepsie vor - nachgewiesen durch einen Facharztbrief - die trotz Medikation immer wieder Krampfanfälle bekam. Arzt oder Krankenschwester im Lager hätten ihr daraufhin gesagt, zum Neurologen müsse sie erst in einem Jahr wieder, und ohne Überweisung kommt sie da nicht hin. Wir setzen uns in mein Auto - Patientin Beifahrerseite, Dolmetscher Rücksitz, das Lenkrad dient mir als Schreibunterlage. Ich schreibe ihr ein Attest, dass sie wegen ihrer Krampfanfälle dringend und zeitnah einem Neurologen vorgestellt werden müsse, und notiere mir ihre Telefonnummer, um später nachzufragen, ob das passiert ist. Nach meiner bisherigen Erfahrung hilft das manchmal.

Neben dem Beratungscontainer, den wir vom Hamburger Flüchtlingsrat nicht mehr betreten dürfen (siehe letztes Tagebuch, Nr. 65), steht ein Toilettencontainer, den ich vor meiner Heimfahrt aufsuche. Als ich ihn fünf Minuten später wieder verlasse, steht ein junger Wachmann vor der Tür und erklärt mir, dass ich diesen Bereich nicht betreten dürfe. Wo ich mich denn anmelden müsste, wenn ich auf Toilette will, frage ich. Der junge Mann zuckt mit den Schultern. Er sei nur angewiesen worden, mir das zu sagen. Da ich das, was ich im Toilettencontainer wollte, bereits erledigt habe, verzichte ich auf eine weitere Eskalation und verlasse diesen gastlichen Ort weisungsgemäß.

   
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Letzte Änderung:
19/11/19
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